Stellen wir uns bitte für einen Moment einen Übeltäter vor, der etwas Ungesetzliches tut. Dauert ein bisschen, okay, fertig? Nun lassen wir vor unserem inneren Auge Beweise für die Untaten erscheinen, Unterlagen aller Art, Fingerabdrücke, Videomaterial. Und kaum haben wir das getan, sehen wir, wie der Mensch das Material vernichtet. Er verbrennt’s, kippt es in eine Müllverbrennungsanlage, isst es auf, spült es in die Kanalisation.
Der Mensch kommt vor Gericht. Das Gericht untersucht seine Gesetzesverstöße. Es erkundigt sich nach dem Verbleib von Beweisen. Es erfährt, der Mensch habe diese zerstört. Es konfrontiert ihn mit dem Vorwurf. Der Mensch antwortet: Das stimmt. Aber ich musste das tun. Etwas in mir gab mir den Befehl dazu, ich war außerstande, dies zu steuern, denn ich bin ein komplexes Wesen. Nicht immer bin ich Herr dessen, was ich mache, dazu bin ich, wie soll ich sagen?, zu schwierig. Es ging jedenfalls nicht anders.
Käme der Mensch damit durch? Oder würde man ihn, auf die eine oder andere Weise, aus dem Verkehr ziehen?
Nun ein Wort zur National Security Agency (NSA). Es gibt in den USA einen Rechtsstreit der Electronic Frontier Foundation (EFF) mit den Behörden. Die EFF setzt sich für Grundrechte im Informationszeitalter ein und beschuldigt die NSA, sich in einem bestimmten Fall privater Daten illegal bemächtigt zu haben. Verschiedene Gerichte ordneten an, die NSA habe entsprechendes Beweismaterial herauszugeben. Was sie nicht tat. Stattdessen vernichtete sie diese Unterlagen, woraufhin sie wiederum gerichtlich aufgefordert wurde, dies zu unterlassen.
Die Antwort der NSA: Das gehe leider nicht, ihre Computersysteme seien zu komplex, ein Eingriff ohne gravierende Folgen für die nationale Sicherheit unmöglich.
Das Verblüffende ist: Die Behörde kann auf ein gewisses Verständnis bauen, weil die meisten Menschen täglich mit Geräten zu tun haben, deren Funktionsweise sie nicht einmal in Ansätzen kapieren. Wir leben in einer Welt, die für uns zu komplex ist. In der Dinge geschehen, die wir nicht wollen, obwohl wir diese Welt selbst geschaffen haben. In der man unser Inneres mit Algorithmen ausleuchtet und unsere Entscheidungen vorhersagt, bevor wir selbst sie getroffen haben – ohne dass die meisten von uns erklären könnten, was ein Algorithmus überhaupt ist.
Jedenfalls kann man sich entscheiden. Entweder es stimmt, was die NSA sagt. Dann täte sie also Illegales und könnte aber nichts dagegen unternehmen, sie wäre der Ungesetzlichkeit ihres eigenen Handelns gleichsam willenlos ausgeliefert. Hier gibt es noch zwei Untermöglichkeiten: dass nämlich a) die Computersysteme der Behörde tat-sächlich unbeherrschbar sind und Dinge schlucken, die sie nicht schlucken sollten. Oder dass b) die Leute von der NSA, wie soll ich sagen?, nicht richtig mit ihren Elektronenhirnen umgehen können, also unfähig sind, die Apparate am Beweisaufessen zu hindern. Man tut gut daran, dies in Erwägung zu ziehen. Denn die Erfahrung legt nahe, dass es da nicht nur brillante Superspione gibt, sondern den einen oder anderen von der Art jener Leute, die vor Jahren einige Fläschchen mit Pockenviren in einem Lagerraum des Labors der amerikanischen Lebensmittel- und Medikamentenbehörde in Bethesda/Maryland vergaßen, wo die Viren dieser Tage rein zufällig entdeckt wurden.
Oder es stimmt nicht, was die NSA behauptet. Sie könnte also in Wahrheit doch die Beweise herausrücken und müsste sie gar nicht löschen. Dann würde sie erstens wider das Gesetz handeln und zweitens noch dazu lügen.
Jedenfalls, um auf den Anfang zurückzukommen: Kein Mensch, der all diese Dinge vor Gericht erklären würde, käme damit durch. Sein zukünftiger Platz wäre entweder im Gefängnis oder in der Psychiatrie.
Die NSA arbeitet weiter.
Illustration: Dirk Schmidt