Es war Nacht, ich saß in der Küche und dachte über Mathematik nach. Was ist mir eigentlich von Mathematik geblieben?, dachte ich, so lange habe ich Mathematik in der Schule gehabt,aber was ist mir geblieben,eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben?(Außer dass ich rechnen kann.)Und rechnen muss man heutzutage gar nicht mehr können, Maschinen tun es für uns, Maschinchen, mein scheckkartenkleiner Hosentaschencomputer zum Beispiel, er zieht Wurzeln schneller als jeder Zahnarzt, die ganze Hirnfunktion »Rechnen« habe ich an ihn ausgelagert. Wie wäre es eigentlich, man würde auch andere geistige Fähigkeiten an kleine Apparate auslagern, das Verfassen kleiner Texte über Mathematik zum Beispiel, und hätte also einen kleinen, sehr flachen Mathematiktextverfasser in der Hosentasche, den man bei Bedarf, zum Beispiel jetzt…?Dann fiel mir mein Mathematiklehrer ein, dem ich lange Zeit fast täglich gegenüber saß. Er sprach zu uns von Pythagoras, Euklid und Cosinus, und einige von uns rangen mit seinen Tafelbildern, wie Laokoon und seine Söhne mit den Schlangen rangen, wild und vergeblich. Einer, mein Freund Peter, wollte Medizin studieren, da war der Numerus clausus davor – und der Lehrer sagte eines Tages, als Peter wieder einmal nichts begriff: »Sie wollen Medizin studieren, Peter?! Sie sehe ich doch bei der Müllabfuhr wieder!«Was für ein Satz, dahingesagt im Unterricht! Peter hat ihn bis heute nicht vergessen, nicht eine Sekunde lang.Stellen wir uns bitte vor (und sei es, damit es auch die Mathematiker verstehen), das Leben des Menschen bewege sich auf einer Skala zwischen Null und Eins.Null: Das wäre also das Nichts, ein Loch im Boden, ohne Bedeutung, ohne Platz im Dasein, überflüssig, eigenschaftslos, der austauschbare Allerweltsmensch, das traurige Scheitern an dem, was man »Leben« nennt.»Wie viele Nullen haben Sie selbst in Ihrem Leben, wie Sie nun vielleicht bemerken, nicht alles getroffen, mit wie vielen haben Sie vielleicht sogar gespielt?«, schreibt Robert Kaplan in seinem wunderbaren Buch Die Geschichte der Null. »Jene Gesichter auf alten Klassenfotos, deren Namen Ihnen nun nicht mehr einfallen, jene Namen in alten Adressbüchern, die in Ihnen keinerlei Gesichtszüge mehr wachrufen – jene Menge, in die Sie selbst manchmal gern als bloßer Zuschauer eintauchten. Sie sehen diese gesichtslosen Namen – bis Ihnen der Gedanke einen kalten Schauer versetzt, in wie vielen zerfledderten Adressbüchern, in Kellerschränken verstaut, ihr eigener Name unentzifferbar vor sich hinmodern könnte.«Noch schlimmer: 0, das ist im Extremfall die Depression, das Empfinden eigener Wertlosigkeit, das ausweglose Gefühl, »unter einer Glasglocke sitzend, in meiner eigenen sauren Luft schmorend«, wie die amerikanische Lyrikerin Sylvia Plath es in ihrem Roman Die Glasglocke beschrieb.Und Eins? 1? Das wäre dann der sich langsam aufrichtende, kämpfende, am Ende gerade dastehende, im Leben seinen Platz gefunden habende, von anderen wahrgenommene, additionsfähige Mensch, der seine Nase frei in die Luft streckt.Wie hat aber der Lehrer jenen Satz damals gemeint? Als Versuch, den Peter fertig zu machen, zu zerstören, auf Null zu bringen? Oder im Gegenteil: ihn zu konfrontieren mit der Möglichkeit zu vernullen? Als Versuch, seine Lebensgeister zu wecken und ihn in Richtung 1 zu schubsen? Keine Ahnung. Was ich aber weiß: dass Peter sich den Satz auf ein Blatt Papier schrieb und auf sein Klo heftete, damit er ihn jeden Tag sah. Und dass er, weil es in Deutschland keinen Medizin-Studienplatz für ihn gab, nach Brüssel zog, erst einmal Französisch lernte (besonders sprachbegabt war er nie), unter unglaublichen Schwierigkeiten dort Medizin studierte, nach Deutschland zurückkehrte und heute als Notarzt arbeitet, jeden Tag Menschenleben rettend. Einer, der gekämpft und gewonnen hat und an dessen Lebenslauf man sich freuen kann.Das war, was mir in dieser Nacht einfiel, als ich an Mathematik dachte. Es ging auf null Uhr zu. Das O in BOSCH erschien mir plötzlich wie eine Null, ich las BNULLSCH. Ich trank aus und kroch zu Paola ins Bett.