Das Beste aus meinem Leben

Hier spricht der Gärtner (II): Wenn ich mich an meinen Vater erinnere, sehe ich oft einen großen, etwas erschöpften Mann in einer alten Trainingsjacke, einer erdbeschmierten Cordhose und schwarzen Gummistiefeln vor mir. Der Mann saß, leicht vornübergebeugt, müde auf einem Gartenstuhl. Er hatte gerade Rasen gemäht. Oder Bäume geschnitten. Oder Kirschen geerntet.Warum hat sich mir das so eingeprägt? Vielleicht weil es einfach oft so war. Der Garten war Alltag für uns alle. Vielleicht auch, weil sich nach der Gartenarbeit eine Art von physischer Entspanntheit meines Vaters bemächtigte, die ihn zugänglicher machte als zu jenen Zeiten, da er mit Anzug und Aktentasche aus dem Büro kam und in Gedanken noch mit der Bürowelt beschäftigt war, die mir unendlich viel fremder war als der Garten mit seinen Gerüchen, der schweren Erde und den Erbsen, die wir immer selbst aus den Schoten klauben durften und gleich aßen.Der Garten meiner Kindheit diente der Ernährung. Auch überall um uns herum zog man Gemüse. Baute Obst an. Es ging darum, Geld zu sparen. In unserem Garten gab es Bohnen und Johannisbeeren, Radieserl und Kirschen, Äpfel und Zwetschgen. Das Meiste wurde nach der Ernte eingeweckt und in den Keller gebracht, wo leere Regale warteten, nein: leer waren sie nicht, denn in vielen standen Bohnen-, Kirschen- und Zwetschgengläser aus dem Jahr davor. Und aus dem Jahr davor.Fast immer hatten wir zu viel. Das ging meinen Großeltern sowie den Onkeln, Tanten und Nachbarn nicht anders. Jeder brachte, wenn er zu Besuch kam (und in meiner Kindheit kamen Großeltern, Onkel, Tanten und Nachbarn nahezu täglich zu Besuch), ein Glas mit Eingewecktem mit, über das meine Mutter, kaum war der Besuch aus dem Haus, lauthals fluchte – kein Mensch, nicht mal drei hungrige Brüder, konnte all das Obst und Gemüse essen, das im Keller wartete. Als Rache brachte aber auch meine Mutter, wohin immer sie ging (und sei es zum Zahnarzt gewesen), ein Glas mit. So glich sich alles aus, es gab einen Kompott-Kreislauf, innerhalb dessen man nach Monaten oft ein Glas aus dem eigenen Garten zurückbekam.Man warf kein Essen weg in den Zeiten damals. Man brachte es anderen.Als wir nun vor einer Weile unseren eigenen kleinen Garten anlegten, weit draußen vor der Stadt, ein Garten, den wir nur am Wochenende und in den Ferien sehen, dachte ich für einen Moment: Gemüsegarten? Obst? Ach, bitte, nein, so weit von uns entfernt, hat das sowieso keinen Sinn. Und selbst, wenn ich täglich im Garten stehen könnte: ICH WILL BLUMEN! Keinen Zweckgarten, kein Nützlichkeitsdenken: SINNLOSE PRACHT! SCHWELGEN IN BLÜTEN! EIN FARBENMEER!Also pflanzten wir Rosen, Hortensien, Phlox, Clematis. Der Garten wurde schön, jedes Jahr wird er schöner. Und schöner. Und schöner.Das ist das eine. Das andere: Es gibt hier viele Dinge, die ich nicht gepflanzt habe. Die niemand je pflanzen würde. Löwenzahn. Quecken. Irgendein chinesisches Kraut, das illegal eingewandert ist und nun schon jeden Waldrand in der Gegend überwuchert – und meinen Garten auch, in dem ich sitze und an Schönheit, Pracht, Schwelgen denke. Aber nur Löwenzahn, Quecke, Chinesenkraut sehe.Ich kann mich in meinem Garten nicht entspannen. Ich bin sein Sklave. Der Garten spricht zu mir in Form von Unkraut, er hat keine andere Sprache, seine Befehle haben Pflanzenform. Kaum sitze ich, schon sehe ich sprießen, was nicht sprießen soll – und springe wieder auf. Der Garten bringt meine zwanghafte Seite zum Vorschein, ich brauche mindestens eine Verhaltenstherapie, in der Fachleute mich langsam an den Anblick von Unkraut gewöhnen.»Papa, spielst du mit mir Fußball?«, ruft Luis.»Ja, gleich… Ich muss nur noch…«, rufe ich zurück und stehe schon wieder hinter einer Hortensie, die Hand an einem Chinakraut-Stängel, da denke ich: Wie soll eigentlich mein Sohn mich eines Tages in Erinnerung haben? Wird er einmal sagen: »Wissen Sie, mein Vater war sehr entspannt, wenn er aus dem Büro kam, er war mir dann sehr nah – aber am Wochenende im Garten? Entsetzlich! Ein Getriebener! Ein fremder Mann!«Hastig springe ich aus dem Beet, eile um die Hausecke und rufe: »Wo ist der Fußball!?«