Notizen aus Venedig (III): Wenn ich über die Accademia-Brücke gehe, muss ich immer an einen alten Mann denken, den ich hier vor Jahren…Also, das war so.Auf der Accademia-Brücke stehen die Hütchen-Spieler. Mitten im Gewühl derer, die von den Zattere und der Accademia-Galerie zum Campo Santo Stefano und weiter zu San Marco drängeln, bauen sie ihre kleinen Tischlein auf, darauf je drei Hütchen und eine Kugel. Die Kugel rollt von einem Hütchen zum anderen, verschwindet darunter, taucht wieder auf, verschwindet unter einem anderen. Kurz hebt der Spieler die Hütchen, vertauscht sie mit flinken Fingern, schiebt sie von hier nach da, für eine Sekunde sieht man wieder die Kugel, weg ist sie aufs Neue – dann hält der Mann inne. Man darf raten, wo die Kugel jetzt ist. Unter welchem Hütchen.»Ich weiß es!«, ruft der Luis. »Ich weiß es, ich weiß es!«»Nein, du weißt es nicht«, sage ich.»Wetten?!«, ruft er.»Nicht wetten!«, rufe ich. »Bloß nicht wetten!«Die Leute bleiben stehen und schauen, es sind sicher zwanzig, umbrandet von der strömenden Touristenmenge. Dann meldet sich einer und wettet. Er gibt dem Spieler fünfzig Euro, tippt auf ein Hütchen, der Spieler hebt es, da ist die Kugel. Der Wetter bekommt hundert Euro.Weiter geht es, ein anderer entschließt sich, hundert Euro zu setzen. Er starrt auf die fliegenden Hände, die flitzenden Hütchen, die sausende Kugel. Er rät und verliert.So geht das Tag für Tag. Vor Jahren kam ich jeden Tag an den Spielern vorbei, weil ich auf der Giudecca wohnte und mein Weg ins Innere Venedigs hier entlangführte. Irgendwann konnte ich den Betrug nicht mehr ertragen. Ich wandte mich an einen jungen deutschen Touristen, der das Spiel verfolgt hatte und einen Fünfzigtausend-Lire-Schein setzen wollte (den Euro gab es noch nicht), nachdem vor ihm jemand gewonnen hatte.»Lassen Sie es!«, sagte ich laut und auf Deutsch zu ihm. »Der Mann vor ihnen gehörte zum Spieler, sie arbeiten mit verteilten Rollen. Einer von ihnen tut, als sei er Tourist, er spielt und gewinnt natürlich, um Leute wie Sie anzulocken, die immer verlieren und…«Weiter kam ich nicht. Drei Mann umringten mich blitzschnell, kleine drahtige Burschen in Lederjacken. Sie drängten mich (ohne dass es die Touristen, die nur auf die Hütchen starrten, bemerkt hätten) die Treppe der hölzernen Brücke hinunter. Einer zischte mir ins Ohr: »Mach, dass du weiterkommst, Arsch! Du bist nicht in Deutschland, das ist Italien.«Ich wollte die Diskussion nicht vertiefen und ging meiner Wege. Am nächsten Tag stieg ich hinter einem alten Mann die Treppe hinauf. Sein Haar war schlohweiß, sorgsam gekämmt. Er trug einen hellen Trenchcoat, in der Mitte mit einem Gürtel verschnürt, und ging langsam, denn er stützte sich auf einen Stock. Als er oben auf der Brücke angekommen war, ging ein Ruck durch den Alten, er sah die Hütchen-Spieler, richtete sich auf, erhob den Stock und ging, ohne zu zögern, mit dieser Waffe auf die Spieler los: »Verfluchte Bande!«, schrie er. »Verschwindet hier oder ich fege euch in den Canal!«So schnell sah ich nie junge Männer laufen. Sie schnappten Hütchen, Kugeln, Tischchen und rannten die Treppe auf der anderen Seite hinunter, weg, nur weg.Das war vor Jahren. Wo der Alte ist, weiß ich nicht. Nur die Hütchen-Kerle sind, wie gesagt, wieder da. Oder immer noch. Ich habe beschlossen, meine Einstellung ihnen gegenüber zu verändern. Ich betrachte sie fortan als zu Venedig gehörig, als Teil des touristischen Angebots.Nehmen Sie dies als Moral, falls Sie je nach Venedig fahren: Kurz währet unsere Wut, ewig der Nepp.