Gelegentlich denke ich darüber nach, wie es wäre, ein zweckfreies Leben zu führen. Zum Beispiel Tag für Tag an der Straßenecke zu sitzen und zu beobachten, wann und wie der Mann vorbeigeht, der mir vor Jahren versprochen hat, den Fußboden in meinem Büro zu reparieren. Ich lernte ihn einmal morgens im Zeitschriftenladen kennen, ein älterer Mann mit weißem Bart und großen, staubbedeckten Händen, Schreiner von Beruf. Ich fragte ihn, ob er das vom eindringenden Regenwasser zerstörte Parkett vor der Tür zum Bürobalkon ersetzen könne. Er ging gleich mit, riss mit dem Stemmeisen ein Stück Parkett aus dem Boden, um ein Muster zu haben, sprach über die Scheidung von seiner Frau und verließ mich.Das ist zwei Jahre her. Er kam nie zurück.Manchmal sehe ich ihn auf der Straße, beim Bäcker oder im Zeitschriftenladen und frage nach dem Parkett. Dann sagt er, er werde demnächst kommen, es dauere nicht mehr lange, er werde dem Zeitschriftenladenbesitzer sagen, wann – doch kommt er nie. Natürlich könnte ich einen anderen Handwerker beauftragen, aber das tue ich nicht, ich will wissen, wie diese Sache hier ausgeht. Und, wie gesagt, manchmal denke ich nach, wie es wäre, an der Ecke das Hin und Her dieses Mannes zu protokollieren. Dem Rätsel seines Daseins näherzukommen.Vor drei Jahren habe ich einen Artikel über einen Mann namens Feltham gelesen, einen Schotten, der sein Leben radikal änderte. Er kündigte seinen Job, verkaufte sein Haus, kaufte ein Campingauto, zog zum Loch Ness, wo er seitdem nichts tut als das Wasser zu beobachten und auf das Erscheinen des Monsters zu warten. Das macht er seit fünfzehn Jahren. Neben dem Artikel war ein Foto von Feltham zu sehen: er mit Fernrohr am Rande des Lochs. Er schaute aber nicht durchs Fernrohr. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und sah zur Seite. Draußen auf dem See sah man einen dunklen Fleck. Das hätte das Ungeheuer sein können, vielleicht war es auch nur eine Unregelmäßigkeit im Zeitungspapier. Jedenfalls wäre das ein tolles Bild: Feltham, seit Jahrzehnten auf das Monster wartend, schaut zur Seite, während Nessie auftaucht. Aber es ist einfach das Bild eines Mannes, der sein Leben einer Sache gewidmet hat, die es eventuell nicht gibt. Eines Mannes, der vielleicht extrem unglücklich würde, wenn es Nessie gäbe, weil sein Glück im Warten liegt. In der Zweckfreiheit. Der Nicht-Erfüllung. Der Offenheit der Situation.2008 wird es 75 Jahre her sein, dass jemand das Monster zum ersten Mal sah. Oder es gesehen zu haben glaubte. Oder es gesehen gehabt zu haben behauptete. 1933: Ein Ehepaar namens Mackay beobachtete minutenlang ein seltsames, riesiges, sich im Wasser tummelndes Tier. Seitdem haben sich immer mehr Leute zum Loch Ness aufgemacht, einmal war auch ich dort, es gab große Mengen von Touristen. Jahr für Jahr: etliche Beobachtungen des Ungeheuers. Wenn man bedenkt, dass vor 75 Jahren niemand nach Nessie Ausschau hielt und nun Jahr für Jahr tausende – da ist die Quote eigentlich gesunken. Je mehr Menschen auf das Ungeheuer warteten, desto seltener wurde es gesehen.Vor Kurzem stand in der Zeitung, 1997 habe es zwanzig Sichtungen im Jahr gegeben, im vergangenen Jahr drei, heuer erst zwei. Was heißt das? Gab es früher viele Tiere im Loch, nun nur wenige? Ist die Zahl der Monster-Erwarter nun so groß, dass die Ungeheuer in den tiefsten Tiefen des Lochs sich fürchterliche Geschichten von Touristen erzählen und Fotos herumreichen, nach deren Betrachtung keines mehr auftauchen will?Manchmal stelle ich mir vor, wie der Mann Feltham eines Tages in den Himmel gerufen wird, wie er gesenkten Kopfes vor den Schöpfer tritt und eine Stimme ihn fragt: »Feltham, was hast du gemacht mit deinem Leben?«Feltham wird sagen, er habe auf das Erscheinen eines schlangenähnlichen Seeungeheuers gewartet, vergeblich.Die Stimme wird sagen: »Vergeblich, Feltham…?« Und Feltham wird aufblicken und etwas Unscharfes, Schwarzweißes, Schlangenähnliches erblicken. (Oder einen älteren Mann mit weißem Bart und großen, staubbedeckten Händen, der ein Stück Parkett in Händen hält?)
Illustration: Dirk Schmidt