Das Beste aus meinem Leben

Heute wieder eine Grundregel für das menschliche Zusammenleben: Stellen Sie nie eine Vermutung an über den Menschen, dem Sie gerade begegnen! Und wenn Sie die Vermutung doch anstellen, äußern Sie diese nicht! Fragen Sie also nie eine Frau mit Blick auf deren Bauch, wann es denn so weit sei, denn es könnte sein, dass sie einfach nur zugenommen hat. Fragen Sie nie einen englisch sprechenden Menschen, ob er Engländer sei, denn es könnte sich um einen Schotten handeln.

Neulich sagt Paola zu mir: »Du machst so einen beleidigten Gesichtsausdruck, was ist denn los?«
Ich: »Warum hast du da so einen genervten Unterton? Und warum sollte ich beleidigt sein?«
Sie: »Das weiß ich nicht, aber du siehst so aus. Außerdem bin ich nicht genervt. Ich frage nur.«
Ich: »Ich bin irgendwie deprimiert, wie kannst du das als beleidigt interpretieren?«
Sie: »Weil es so aussieht.«
Ich: »Ich bin traurig, es geht mir nicht gut – und du machst daraus, ich sei eine beleidigte Leberwurst?«
Sie: »Warum bist du denn traurig?«
Ich: »Kann ich nicht drüber reden, schon gar nicht mit jemandem, der einen deprimierten Gesichtsausdruck für einen beleidigten hält.«
Das ist, was ich meine. Wenn Sie Vermutungen äußern, werden Sie aus dem Nichts plötzlich Streit haben, wo andernfalls vielleicht ein Gespräch entstanden wäre. Sie biegen links ab, wo Sie rechts hätten abbiegen sollen. Andererseits sei es einfach ein Zeichen emotionaler Feigheit, Vermutungen zu vermeiden, sagt Paola. Spontaneität sei im Gespräch immer wichtiger als dieses vorsichtige Abtasten.

Ich: »Feige bin ich also auch. Beleidigt und feige.«
Sie: »Jetzt bist du wirklich beleidigt.« Na ja, so geht das dann aus, nicht wahr?

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(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Seien Sie spontan! Riskieren Sie etwas! Seien Sie um Gottes willen nie: vorsichtig!)

Übrigens bin ich in dieser Hinsicht einmal sehr knapp einer Totalkatastrophe entgangen. Denn ich begegnete einmal bei einem Abendessen der berühmten Schauspielerin V., hielt sie aber für die Exfreundin I. meines guten Freundes D., die von Beruf Lehrerin ist. Ich erkannte die V. nicht. Aber ein Instinkt oder ein Zweifel oder eine seltsame Irritiertheit oder eben meine Treue zu der oben erwähnten Grundregel fürs menschliche Zusammenleben hielten mich davon ab, die V. als I. anzusprechen. Sie also nach ihrem heutigen Verhältnis zu D. zu befragen. Oder nach ihrem Schulalltag. Ich hielt die Klappe oder sagte seltsame Sachen wie: »Du hast ja eine neue Frisur«, worauf die V., aus meiner Sicht, eigenartig reserviert reagierte, denn wir waren uns ja noch nie zuvor begegnet.Wie kam ich also dazu, sie zu duzen?!

Auf dem Heimweg sagte ich zu Paola: »Die I. hat sich aber verändert, seit sie nicht mehr mit D. zusammen ist.«
»Wieso I., die war doch gar nicht da.«

So kam mein Irrtum heraus.

»Gott sei Dank habe ich nichts gesagt«, sagte ich.
Paola sagte, so könne man das nicht sagen, ich wisse doch nicht, wohin es geführt hätte, wenn ich unvorsichtig gewesen wäre: Vielleicht hätte die Frau Humor? Vielleicht hätte sie, die es gewöhnt sei, dass jeder sie kenne, es witzig gefunden, dass jemand sie nicht kenne? Jedenfalls hätte ich mich um ein Erlebnis gebracht, meinte sie. So hätte ich nur einen verkrampften Abend gehabt.
»Ist ja auch mal ein Erlebnis«, sagte ich beleidigt.
»Aber wieder mal nur eines mit dir selbst, nicht mit dem Leben.«Ich gebe zu: Sie hatte recht. Ich ziehe hiermit meine Grundregel vom Anfang in aller Form zurück. Vergessen Sie alles – mich, diesen Text, diese Seite. Alles. Seien Sie spontan! Riskieren Sie etwas! Seien Sie um Gottes willen nie: vorsichtig!

Illustration: Dirk Schmidt