Auf der Internetseite des Daily Mirror las ich die Geschichte von Nelson Foyle, 93 Jahre alt, der seit 81 Jahren Stammgast im Pub The Dog & Gun ist, das sich im Dorf Netheravon in der Grafschaft Wiltshire befindet, im Südwesten Englands. Foyle spielte mit zwölf Jahren mit den Kindern des Wirtes im Bierkeller (dort auch den ersten Schluck nehmend), später kam er drei Mal pro Woche, bis heute. Er trinke, sagt er, jedes Mal zwei und einen halben Pint, es könnten aber auch mal vier werden – das macht bis heute knapp 23 000 Liter Bier, nicht außergewöhnlich viel für ein langes Leben, aber, wie gesagt: alle im selben Lokal.
Der Heimweg ist nicht lang, Foyle wohnt in derselben Straße, in der sich The Dog & Gun befindet und in der er auch aufgewachsen ist, in der Wohnung seiner Eltern, die nur fünfzig Meter von den vier Wänden entfernt ist, in die er als Erwachsener zog. Muss ich noch erwähnen, dass Nelson Foyle seit 65 Jahren mit derselben Frau verheiratet ist, Marina heißt sie?
Man bekommt, liest man das, sofort eine ungeheure Sehnsucht nach solcher Beständigkeit und Ruhe: Die Welt dreht sich, Nelson Foyle bleibt.
Wer nun behauptet, so etwas gebe es heute kaum noch, dem kann man ein paar Geschichten aus dem Münchner »Hofbräuhaus« entgegenhalten, wo es ungefähr 3500 Stammgäste gibt, unter ihnen, seit 1949 am Stammtisch Wuide Rundn, Ludwig Aidelsburger. Der starb zwar 2012 im Alter von 92 Jahren, verfügt aber weiterhin über einen, im Bierkrugfach 124 aufbewahrten, Keferloher mit Zinndeckel, für alle Fälle sozusagen. (Die Bedienungen stauben den Maßkrug jedenfalls regelmäßig ab.)
Leider handelt es sich aber hier um ein Reservat. Denn beim Studium einschlägiger Statistiken wird man schnell mit dem Phänomen des Wirtshaussterbens vertraut: Selbst in Bayern gibt es in einem Viertel der 2200 Gemeinden kein Gasthaus mehr, anderswo ist es natürlich noch viel schlimmer – und wo kein Wirtshaus ist, da findet man keinen Stammtisch. Warum? Fernsehen, Rauchverbot, Zeitmangel, was weiß ich. Viele Gründe.
Aber warum fehlt er einem plötzlich, der Stammtisch, selbst wenn man nie an einem saß? Früher redete man in der Politik von »Lufthoheit über den Stammtischen«, wenn einer platt daherredete auch vom »Stammtischgeschwätz«.
Jetzt liest man in der Zeit unter der Überschrift »Es fehlt der Stammtisch« einen Artikel der Autorin Jana Hensel, die schreibt, ihre Mutter habe mal gesagt, Pegida sei nur entstanden, weil es keine Eckkneipen mehr gebe, »dunkle, verhangene Spelunken, in denen die Leute, meist Männer, zusammenhocken und von mir aus auch, auf gut Deutsch, Scheiß erzählen können«. Ja, am Stammtisch kann man zur Not nach der dritten Maß auch schon mal größeren Müll von sich geben, das bleibt halt unter Stammtischbrüdern und wird, wenn die Stühle hochgestellt werden, von der Putzfrau am Ende rausgewischt. Bei Pegida allerdings wird vor der Weltöffentlichkeit herauskrakeelt, was besser in irgendwelchen vier Wänden geblieben wäre, weil mancher hier bloß einem menschlichen Grundbedürfnis nachkommt: auch mal in aller Ruhe Blödsinn reden zu können.
Wie ja übrigens auch der einsam mit seiner Bierflasche vor dem Rechner hockende Internetkommentarkauz vor Riesenpublikum herumpöbelt – und in keinem Fall gibt es einen, der mal von Angesicht zu Angesicht Contra geben würde, den man nicht einfach abschalten könnte, mit dem man sich streiten und dann vertragen müsste, weil der spätestens eine Woche später wieder vor einem säße. Ja, man tut wahrscheinlich vielen real existierenden Stammtischen jetzt Unrecht, weil an ihnen keineswegs nur blöd dahergeredet wird, aber es sind doch in jedem Fall geschützte, nicht mit Fernsehkameras und Internetleitungen ausgestattete Räume des Redens mit anderen, nicht bloß gegen andere, nicht wahr?
In diesem Sinne: ein Prost! an die letzten Stammtisch-Recken, und Cheers!, Mr. Foyle, to your health!
Illustration: Dirk Schmidt