Zu den Rätseln menschlichen Zusammenlebens zählt das Phänomen der Herrenlosigkeit gewisser Fahrräder. So gut wie jeder Gegenstand, der sich im öffentlichen Raum befindet, lässt sich einem Besitzer zuordnen. Jedes Auto hat einen Halter, jeder Kinderwagen einen, der ihn schiebt. Jeder Hut sitzt auf einem Kopf, in jedem Schuh steckt ein Fuß. Doch vor Bahnhöfen und an Laternenpfählen, in Hausdurchgängen und neben Briefkästen stehen, liegen, lungern Fahrräder herum, die niemandes Eigentum zu sein scheinen, Räder ohne Sattel, ohne Räder, ohne Reifen, lampenlos, vom Rost zerfressen und ohne einen Menschen, der sich um sie kümmert.
Man fragt sich, wie das möglich ist. Man fragt es sich nicht allein. Denn auch Peter Lohmeyer, der Schauspieler, stellt sich diese Frage. Wie ein Aufschrei klang es, als er dem Hit Radio FFH sagte: »Ich kann einfach nicht verstehen, dass jemand sein Fahrrad vergisst und es verrotten lässt.«
Ja, was sind das nur für Menschen? Man wartet auf ihre Bekenntnisse: Ich kettete mein Rad vor 25 Jahren an ein Kreuzberger Halteverbotsschild und dachte nie wieder daran. Der radlose Rahmen, der, mit einem fetten Kettenschloss perfekt gesichert, im Radständer vor dem Bad Godesberger Stadtpark vergammelt, ist meiner – aber ich habe den Schlüssel verloren. Ich habe vor fünf Jahren einen Monat lang ein Airbnb-Apartment in Köln bewohnt und ein altes Fahrrad dort im Hauseingang vergessen, vergebt mir! Ich denke jeden Abend daran, aber ich war halt nie wieder in Köln.
Doch die Fahrradleichenbesitzer schweigen. Sind sie selbst schon tot? Sind es die Räder Verstorbener, die unsere Wege säumen?
Wenn es doch nicht so viele wären! Blicke ich in den Durchgang meines Hauses, sehe ich dreißig Räder – mindestens die Hälfte davon wird nie benutzt. Jeder zweite Deutsche besitzt also ein totes Rad und schweigt darüber, es ist verstörend. Mir fällt ein, dass mein eigenes Fahrrad den Winter an ein Verbotsschild in unserer Straße gekettet verbrachte. Was bin ich für ein Mensch?! Passanten benutzen den Fahrradkorb als Mülleimer, es befinden sich darin ein Kleiderbügel, zwei Kaffeebecher, ein halber Pizzakarton und sieben oder acht Taschentücher. Ich sah das den Winter über Tag für Tag an, aber ich tat nichts. Es muss damit zusammenhängen, dass Radfahren ein Raum von Anarchie geworden ist. Die meisten von uns sind Autofahrer, Fußgänger, Bahnbenutzer, Buspassagiere und Radfahrer. Aber nur als Radfahrer tun sie Dinge, die sie in ihren anderen Verkörperungen nie täten. Sie tragen schlammverkrustete Kleidung, schwitzen im Übermaß, sind vom Regen durchnässt, radeln auf Bürgersteigen, missachten Ampeln, zwängen sich zwischen Autos hindurch, rasen Schotterhänge hinab, durchkreuzen die Lebensräume von Gelbbauchunken, fahren betrunken, helmlos, unbeleuchtet. Auch ich tat dies schon, auch ich. Es gibt so viele brave Radfahrer, aber es gibt auch die wilden und rohen, die ein Rad über Jahre an einen Masten ketten, als wäre das nichts.
Peter Lohmeyer sagt, in solchen Fällen »nehme ich mir das Recht raus, solche Fahrräder zu knacken«; er habe mal in München ein Rad mit zwei platten Reifen »mitgenommen, im Hotel repariert (…) und es dann wieder hingestellt«. Das ist der entscheidende Teil des Satzes: Er hat es wieder hingestellt! Hat es nicht für sich selbst benutzt, hat es nicht einem Flüchtling geschenkt, hat es einfach wieder in den öffentlichen Raum zurückgegeben. Als Mahnung für den Besitzer? Zu dessen Beschämung? Zur Verbesserung der Welt? Oder einfach: weil er halt gerne Räder repariert? Ist das wichtig? Ich sehe ab heute tote Räder als Kunstprojekt. Peter Lohmeyer hat sie dazu gemacht. Man kann an keinem mehr vorbeigehen, ohne zu denken: Du kannst es hässlich finden, kannst dich ärgern, kannst traurig darüber sein. Oder du kannst jetzt einfach etwas tun.
Illustration: Dirk Schmidt