Desinfizier mir noch die Klinke. Sei so gut

Derzeit bleibt man drinnen. Zum Glück hat unser Kolumnist einen Freund, einen kühlen, alten, eckigen, der sich damit sehr gut auskennt.

Illustration: Dirk Schmidt

Nachts in der Küche. Ich trank ein Bier und las ein Buch.
»Was liest du?«, fragte Bosch, mein sehr alter Kühlschrank und Freund. »Und wie geht’s dir?«
»War schon mal schöner, alles«, seufzte ich.
»Mir fällt auf«, sagte er, »dass du viel daheim bist.«
»Ist im Moment üblich«, sagte ich. »Alle sind viel daheim.«
»Warum?«
»Weil man sich draußen mit dem Coronavirus anstecken könnte, also bleibt man drinnen.«

»Kenne ich«, sagte er.
»Was kennst du?«
»Das Drinnenbleiben. Ich habe mein ganzes Leben drinnen verbracht. Ich war überhaupt noch nie draußen. Draußen existiert für mich praktisch nicht, es ist für mich wie … das Weltall. Ein unerreichbarer Ort.«
»Na ja, der Mensch ist schon ins Weltall geflogen.«
»Aber kein Kühlschrank. Jedenfalls kein alter Kasten wie ich. Wenn, dann nehmen sie dafür die neuen Dinger. Die sind leichter und haben Internet.«
»Wir könnten dich auf ein Rollbrett stellen und durchs Viertel fahren«, sagte ich. »Luis ist groß und stark, Bruno könnte auch anpacken. Wir könnten dir alles zeigen, draußen.«

Sein Motor sprang an. »Darauf kommst du jetzt?!«, rief er. »Wenn draußen die Seuche wütet?! In Jahrzehnten nie ein Wort darüber – aber jetzt, wenn es gar nicht möglich ist?!«
»Später, meine ich, wenn alles vorbei ist. Außerdem ist Corona für Kühlschränke nicht gefährlich.«
»Auch nicht, wenn sie schon fast 70 sind?«
»In keinem Fall. Es ist nicht mal für Staubsauger ein Problem, und die atmen es ja sogar direkt ein.«
»Ich weiß nicht, ob ich das wollen würde. Ich habe mein Leben drinnen verbracht, immer am selben Platz. Draußen, auf einem Rollbrett herumgeschoben, würde ich Aufsehen erregen. Nicht mein Ding. Ich bin ein Mann des stillen Lebens in vertrauter Umgebung.«
Ich trank einen Schluck Bier.

Meistgelesen diese Woche:

»Ich habe hier auf meinem Posten irgendwann begriffen, dass ich mich nicht fürchten sollte, vor dem, das eh nicht in meiner Macht steht«

»Ein Kühlschrank ist ein Kühlschrank ist ein Kühlschrank ist ein Kühlschrank«, summte er.
»Keine neue Erfahrungen?«, sagte ich. »Ich finde das plötzliche Drinnensein auch interessant. Die Stille, die Begrenztheit, das Anhalten des Rades. Das Lesen. Das Nachdenken.«
»Weil du weißt, dass es wieder anders sein wird!«
»Hoffentlich. Ich habe eine Scheiß-Angst, weniger vor dem Virus, mehr vor … Ich bin Freiberufler, weißt du. Was genau wird anders sein, wenn wir wieder rausgehen? Anders muss nicht heißen: gut.«
»Ich bin nicht mal angestellt«, sagte Bosch. »Im Grunde ein Sklave. Ich habe immer Angst gehabt. Dass ihr mich nicht mehr braucht, was Neues kauft … Die ganze Scheiße.«
Es war einen Moment lang still.

»Vielleicht wirst du anders sein«, sagte Bosch dann. »Ich habe hier auf meinem Posten irgendwann begriffen, dass ich mich nicht fürchten sollte, vor dem, das eh nicht in meiner Macht steht. Ich sollte mich auf das konzentrieren, was meine Aufgabe ist: kühlen, kühlen, kühlen.«
»Finde Klarheit in der einfachen Aufgabe, heute deine Sache gut zu machen«, sagte ich leise.
»Was ist das?«
»Du hast gefragt, was ich lese. Es ist ein Buch über die Philosophie der Stoiker, und das ist der Satz, bei dem ich gerade war. Ich habe nie so viel über Philosophie gelesen wie jetzt.« Ich klappte das Buch zu, schloss die halbvolle Bierflasche und stellte sie in den Kühlschrank. »Gute Nacht!«
»Desinfizier mir noch die Klinke«, sagte er. »Sei so gut.«