Treppchensturz

Zahlreichen gedopten Olympiasiegern wurden ihre Medaillen wieder aberkannt. Aber wie kann man die neuen Sieger würdig für ihre Leistung ehren?

In der Neuen Zürcher Zeitung las ich eine Meldung über den Schweizer Beat Hefti, der im November 2017 zusammen mit Alex Baumann die Goldmedaille im Zweierbob gewann, obwohl gar keine Olympischen Spiele stattfanden; es handelte sich um den Sieg bei den Winterspielen 2014. Hefti erfuhr von seinem Triumph morgens um halb sieben vor einem Wettkampf in Kanada. Er sagte, hoffentlich könnten Baumann und er abends mit einem Bier anstoßen.

Mit einem Bier. Auf den größten sportlichen Erfolg seines Lebens. Den ersten Schweizer Bob-Olympiasieg seit 1994.

Die Sache ist so zu erklären: In Sotschi hatten 2014 russische Zweier- und Viererbobs die ersten Plätze belegt, jeweils mit Alexander Subkow am Volant. Subkow wurde im November dieses Jahres als Doper entlarvt, seine Siege wurden ihm aberkannt, er wurde lebenslang gesperrt. Dennoch ist er heute Präsident des russischen Bobverbandes.

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So rutschte Hefti, 2014 Zweiter, auf Rang eins. Er sagt: »Es freut einen schon, aber es ist schade, dass der Entscheid so spät gefallen ist. Der Moment, wenn man auf dem Podest die Nationalhymne hört, kommt nicht mehr zurück.«

Nun sind viele russische Sportler für die Winterspiele in Südkorea gesperrt. Man kann sich darüber freuen, weil etwas getan wird gegen jene, die andere mithilfe des Staates um die Früchte jahrelangen Trainings betrogen haben. Man kann sich auch ärgern, weil es viel zu wenig ist. Aber jeder, der Sport getrieben hat oder treibt, weiß, dass es dabei sehr wesentlich um den Augenblick des Sieges geht, um jene Sekunden, in denen man erfährt, dass es sich gelohnt hat, dass man besser war, dass man gewonnen hat. Und dieser Moment ist nicht zu ersetzen durch einen Anruf im Morgengrauen. Er ist für immer zerstört.

Beat Heftis Geschichte ist nur eine von vielen. Mehr als 120 Medaillen wurden Betrügern schon aberkannt, weiß Gott nicht nur Russen. Aber sehr viele Doper wurden auch nie erwischt, alle Medaillen der DDR sind noch gültig, obwohl… ach, ja. Weil das IOC seit 2004 alle Blut- und Urinproben aufbewahrt und mit immer neuen Methoden testet, kommt manches Falschspiel erst nach Jahren ans Licht.

Die Russin Tatjana Lebedewa gewann 2008 in Peking jeweils Silber im Weit- und im Dreisprung, neun (!) Jahre später wurde sie disqualifiziert. Die neuen Silbergewinnerinnen muss man umständlich im Internet suchen; nicht einmal in allen Artikeln über den Vorgang werden sie erwähnt. Es sind im Weitsprung die Nigerianerin Blessing Okagbare, im Dreisprung die ehemals Vierte, die Kasachin Olga Rypakowa. (Die zunächst Dritte, Chrysopigi Devetzi aus Griechenland, war schon 2016 bestraft worden.)

Es gibt sehr, sehr viele solcher Geschichten. Und man könnte bei ihrer Lektüre so in Wut geraten, dass man am liebsten verlangen würde, die Rennen müssten noch zehn Jahre später wiederholt werden und die Doper dabei in einem gelben Schand-Trikot hinterhertrotteln. Oder es wäre wenigstens die Siegerehrung bei den folgenden Olympischen Spielen neu zu veranstalten. Die Betrüger hätten zunächst aufs Podest zu treten, dann wieder hinunter. Darauf würde der richtige Sieger bejubelt. Aber was nützte das? Die falschen Ersten, Zweiten und Dritten kämen nicht, sie behalten oft sogar ihre Medaillen. Die russische Sprinterin Tatjana Firowa, die je einmal Silber aus Peking 2008 und aus London 2012 rausrücken müsste, sagt: »Ich möchte meine Medaillen nicht zurückgeben, weil ich denke, dass niemand sie mehr verdient hätte.«

Was soll man tun?

Rache ist schlecht, unserer unwürdig. Man sollte die Betrüger einfach vergessen. Aber an die wahren Sieger denken! Ich werde morgen früh um halb sieben still mein Glas erheben, auf Beat Hefti und alle anderen.

Illustration: Dirk Schmidt