Absturz

Das traditionelle Paradigma des Entzugs ist von großem Ernst geprägt. Der Süchtige muss eine Art persönlichen Untergang erleben, bis zu einem absoluten Tiefpunkt (»Rock Bottom«) absinken, seine Machtlosigkeit eingestehen und seine bisherige Identität aufgeben, um in einer Gruppe anonymer Leidensgenossen die entscheidende Erfahrung zu machen: Im Kampf mit der Abhängigkeit sind alle Menschen gleich.

Diese intime Erfahrung ging lange mit einer bewussten Strenge des äußeren Rahmens einher. Linoleumböden, schlichte Krankenzimmer, kahle Gruppenräume, eine bitter verkochte Brühe aus der Kaffeemaschine – dieser Ästhetik der Schande galt es zu entkommen. Wer aus der Außenwelt einen Ruf als Respektsperson, Erfolgsmensch oder Star mitbrachte, büßte diesen Status ein, war im Gegenzug aber geschützt. Niemand durfte ihn hier erkennen. Prominente, das war die eiserne Regel, hatten in der Öffentlichkeit niemals Suchtprobleme.

Dann kam die ehemalige Präsidentengattin Betty Ford und gestand im Jahr 1978 vor der ganzen amerikanischen Nation ihre Alkohol- und Tablettenabhängigkeit. Damit war der Pakt des Schweigens durchbrochen. Vier Jahre später schuf sie ihre eigene Klinik, in der Stars sie selbst bleiben durften, sofern sie bereit waren, ihre Genesung als öffentliche Erbauungsgeschichte zu inszenieren. Im Gegenzug für dieses doch erhebliche Risiko belohnte sie Menschen wie Elizabeth Taylor, Johnny Cash, Tony Curtis oder Liza Minnelli mit einer neuen Ästhetik des Entzugs.

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Es gab nun Ausblick auf Wüstenlandschaften und Golfplätze, einen »See der Hoffnung«, einen »Raum der Kontem-plation« und das generelle Lebensgefühl eines Luxusresorts hinter streng bewachten Mauern. Non-profit zwar, aber doch nur für Reiche erschwinglich. In den ersten Jahren wurde der Name der Klinik dennoch eher gewispert als laut ausgesprochen. Bis heute hat sie sich den Rest einer therapeutischen Ernsthaftigkeit gewahrt, was man zuletzt am Beispiel des Sängers und Nicole-Kidman-Gatten Keith Urban sehen konnte: Er checkte im Oktober zunächst für dreißig Tage ein, blieb dann aber – »auf dem langen Weg, verzichten zu lernen« – mehr als drei Monate.

Genau wie Betty Ford selbst wird er damit aber zum letzten Zeugen einer vergangenen Epoche. Gerade in den letzten Wochen und Monaten haben sich Stars und Boulevardmedien in einen bisher unvorstellbaren Entzugszirkus hineingesteigert. Mal rein, mal wieder raus, heute fast mit dem Bettlaken erhängt, morgen schon wieder ausgerissen und auf einer Party gesehen, und so fort.

Die Namen der heißesten Privatkliniken sind längst öfter in den Klatschspalten als die der heißesten Nachtclubs: »Promises« in Malibu (Britney Spears, Ben Affleck, Diana Ross, Robert Downey Jr.), »The Meadows« in der Wüste von Arizona (Kate Moss, Amber Valetta, Whitney Houston, Halle Berrys Ehemann), »Crossroads« auf der Karibikinsel Antigua (Eric Clapton, Britney Spears, Whitney Houston) und »Wonderland« im Laurel Canyon von Los Angeles (Lindsay Lohan). An Gleichheit und Gemeinschaft ist hier, mit Gourmetkoch, Yogalehrer und Fitnesstrainer, nicht mehr zu denken – und an dem, was ein Süchtiger als Erstes aufgeben müsste, halten die Stars eisern fest: grenzenlos den eigenen Launen zu folgen.

All diese Institutionen haben Webseiten, und ein Blick auf sie macht die Sache endgültig klar: Entzug ist hier nichts anderes mehr als sündhaft teurer Wellness-Urlaub im Imagetief. Dazu passen ein paar aktuell genannte Gründe für Selbsteinweisung: »extreme Müdigkeit« (Mariah Carey), »Perfektionismus« (Ashley Judd), »Antisemitismus-Anfälle« (Mel Gibson) und sogar »Schwulenfeindlichkeit« (Isaiah Washington). Entzug als Parodie, PR-Stunt, Karriere-Waschanlage. Robbie Williams, der zuletzt wohl aus Versehen in ein ernsthaftes Entgiftungsprogramm geriet, floh vorzeitig und beschimpfte die Klinik als »Konzentrationslager«.

Damit ist ein gewisser Endpunkt erreicht: Sollte es jemals einen positiven Effekt der Prominenten-Therapie gegeben haben (»Wenn Betty Ford dazu stehen kann, kann ich das auch«), so droht dem Entzug nun eine Aushöhlung, die für eine neue Generation von nicht prominenten Suchtkranken fatal werden könnte.