Ofenfrisch

Seit einiger Zeit machen Plakate in den Filialen von Bäckereiketten die Kunden darauf aufmerksam, dass sie »ofenfrische« Backwaren bekommen. Dieses Adjektiv markiert ein Paradox. Denn es hat sich in der Sprache der Betriebe genau in dem Maße durchgesetzt, in dem es produktionstechnisch nicht mehr zutrifft: »Ofenfrisch« heißen die Brezen und Croissants erst, seit sie nicht mehr frisch hergestellt werden. Die Entstehung des Wortes lässt sich genau bestimmen: Solang es die unhinterfragte Tätigkeit jedes Bäckers war, am frühen Morgen in einem Keller- oder Hinterraum seines Geschäfts Brote und Gebäck für den Tag herzustellen, gab es eine solche Bezeichnung nicht; es bestand nach Ladenöffnung gar keine andere Möglichkeit, als dass die Waren unmittelbar zuvor an Ort und Stelle zubereitet worden waren. Das Wort »ofenfrisch«, aufgetaucht in den letzten Jahren, wurde erst notwendig mit dem flächendeckenden Siegeszug der Großbäckereien und der nicht mehr zu verheimlichenden Praxis, dass in den belieferten Filialen, Tankstellen und Kiosken nur noch tiefgekühlte Ware erhitzt wurde. Seitdem kursiert diese neue Bezeichnung – die nichts anderes als ihr Gegenteil meint, wie jeder weiß, der die angenehm warme Breze einer Supermarktbäckerei einmal eine Stunde stehen gelassen und dann zu essen versucht hat. Die behauptete »Frische« endet mit der Abkühlung der Produkte.Am Einsickern dieser Bezeichnung in den Sprachgebrauch lässt sich aber etwas Grundlegenderes über den Zusammenhang zwischen den Worten und den Dingen beobachten. Es macht anschaulich, dass sich jede Benennung des Ursprünglichen, Unverfälschten immer nur im Nachhinein als strategische Beschwörung vollzieht. Das Kriterium der »Frische« stand in Bäckereien, wie gesagt, nicht zur Debatte, einfach deshalb, weil es in den von Tag zu Tag produzierenden Einzelbetrieben eine vollkommene Selbstverständlichkeit war. In dem Augenblick, in dem diese verloren geht, wird sie zum offensiv vorgetragenen Verkaufsargument. Wobei »ofenfrisch« im Wörterbuch der Echtheitsbeschwörungen nur einer der jüngsten Einträge ist. Ein älteres Stichwort, ebenfalls aus dem Feld des Kulinarischen, wäre etwa das Prädikat »hausgemacht«, von dem man weiß, dass es seine emphatische Bedeutung zum ersten Mal durch Etiketten auf Konservenbüchsen verliehen bekam (in einer Zeit, in der Essen aus Haltbarkeitsgründen nicht anders als »hausgemacht« sein konnte, löste das Wort noch keinerlei Sehnsüchte aus). Aus dem Sport wiederum kommt die Vokabel des »Straßenfußballers«, deren feierlicher Beiklang aus demselben Antrieb stammt. Denn solang jedes Kind – egal ob Beckenbauer oder Schwarzenbeck – den Umgang mit dem Ball tatsächlich auf der Straße erlernte, spielte dieser Ausdruck im Jargon der Reporter keine Rolle. Erst seitdem sich bereits Vorschüler auf den offiziellen Plätzen der Fußballvereine abmühen, wird jeder besonders eigenwillige, technisch herausragende Spieler rituell als »letzter Straßenfußballer« gewürdigt. Der Verweis auf eine vermeintliche Ursprünglichkeit setzt also immer gerade in dem Moment ein, in dem dieser Ursprung zugunsten anonymer und standardisierter Verhältnisse entzogen wurde.Vielleicht zeichnet sich in dem Wort »ofenfrisch« tatsächlich der ganze Wandel des Backgewerbes von einer Ansammlung lokaler Kleinbetriebe zur Vorherrschaft weniger Großproduzenten ab. Denn es gehört zu den untrüglichsten Indizien der industriellen Fertigung, dass sie alles Maschinelle der Herstellungsweise zu verbergen sucht und in der Präsentation ihres Produkts zu Bildern des Vorindustriellen, Familiären greift. Dass die Nähe des eigenen Ofens in den Bäckereien so vehement thematisiert wird, ist gleichbedeutend damit, dass die Backmischung in Wahrheit aus der Konzernzentrale oder gleich aus Fabriken von den Philippinen kommt. »Ofenfrisch«: Alle Klagen über das Aussterben der Bäckereien, wie sie in den Zeitungen regelmäßig zu lesen sind, ließen sich auf die Karriere dieses Worts reduzieren., mit Shisokresse und Koriandergrün bestreut servieren.