Der Himmel über Antwerpen

Die Rückeroberung der Natur in der Stadt ist ein Trend, der sich von New York bis Berlin beobachten lässt. Aber niemand hat die Idee so weit getrieben wie Kristina und Jan Engels.

Seit sie diesen Garten haben, fahren sie auch kaum mehr in den Urlaub, sagt Jan Engels: Da würden sie vergebens etwas suchen, das so aussieht wie zu Hause.

Die Sache mit dem Dachgarten hatte sich bis nach Großbritannien herumgesprochen, und so war es kein Wunder, dass regelmäßig Vertreter der britischen Botschaft in Belgien die Engels besuchten, um Heimatluft zu schnuppern. Jan und Kristina Engels nämlich, obwohl Belgier durch und durch, hatten in Antwerpen ein englisches Gartenidyll in 16 Meter Höhe auf ihr Haus gepfropft, so grün, so verträumt, so aufwendig und altmodisch, dass sich wohl niemand gewundert hätte, wenn Florence Nightingale plötzlich zwischen den Enten und Schafen herumgehüpft wäre.

Heute haben ja viele Städter eine Parzelle Grün gemietet, auf der sie Bohnen und Tomaten säen, um dem ersehnten Gefühl näher zu kommen, sich gesund zu ernähren und dafür selbst geschuftet zu haben. Die Engels aber beschlossen schon in den Neunzigerjahren, trotz ihrer drei Kinder weder aufs Land noch an den Stadtrand zu ziehen, sondern mitten in Antwerpen zu bleiben – und sich das Land in die Stadt zu holen, aufs Dach, auf 320 Quadratmeter. Ein ungewöhnlicher Einfall damals: Ein Lagerhaus aus den Dreißigerjahren stand am Hafen von Antwerpen zum Verkauf, ein Architektentraum aus Klinker mit Flachdach und Betonwänden, so dick, wie sie heute keiner mehr baut. »Jeder Quadratmeter Dach kann eine Tonne tragen«, sagt Jan Engels. Das war die Voraussetzung, denn ohne die dicke Decke hätte das Dach niemals den Garten ausgehalten, so wie er heute ist, mit Holzscheune, Wintergarten, Bäumen mit tiefen Wurzeln.

Es ging nicht ohne Profi. Die Engels beauftragten die Gartenarchitektin Nadine Wiggers, die sechs Schichten aufs Dach legen musste, ehe sich englische Romantik ausbreiten konnte: eine Folie, die kein Wasser durchlässt; eine Schicht, die verhindert, dass die Wurzeln der Bäume das Dach beschädigen; eine Matte zum Druckausgleich für die wiederum darüber liegende Drainage-Schicht, die nun den Ablauf des Wassers regelt, wichtig in Belgien, einem Land, in dem es fast so viel regnet wie in England; über all dem ein Filtertuch, auf dem schließlich das Pflanzsubstrat aufgeschüttet werden konnte. Mehr als ein Jahr dauerten die Arbeiten auf dem Dach, erst dann konnten die Engels in ihr großzügiges Loft ziehen, das genau darunter liegt.

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Rasen mähen müssen die Engels kaum, das bisschen Wiese schaffen auch ihre Schafe.

Jan Engels, Importeur von Klimaanlagen und Inhaber eines Großhandelsgeschäfts für Haushaltsgeräte, hatte seiner Frau Kristina versprochen, nicht nur etwas Rasen und Sonnenblumen anzusäen, sondern aus dem Dach ein Idyll wie aus dem 19. Jahrhundert zu zaubern. Ein englischer Garten wie in den Parks der Adligen, nicht so abgezirkelt und geometrisch, wie es Gärten im französischen oder italienischen Stil meistens waren. Dieses Paradies war der Preis dafür, dass Kristina Engel einwilligte, in der Stadt zu bleiben und nicht zurück in ihre Heimat Overijse zu ziehen, eine ländliche Gegend bei Brüssel. Gut, dass ihr Mann ohnehin leidenschaftlich antike Baumaterialien sammelt, überall im Land Floh- und Antiquitätenmärkte besucht und so etwa auf das alte Gewächshaus aus Glas und Stahl stieß, eines, wie es mal typisch war für die Gegend, aus der Kristina stammt, und das heute als Wintergarten dient. Dazu kamen eine alte Scheune, ein Schuppen, eine Terrasse, Hortensien, Clematis und Glyzinien, Obstbäume, Gemüsebeete, Beerensträucher, Hecken. Und Rosenstöcke – die dürfen in keinem englischen Garten fehlen. Bald sah es auf dem Dach aus wie auf einem Bauernhof im alten Cornwall. Nur etwas fehlte noch. Tiere.

Also haben die Engels sich Enten und Hühner und Schafe angeschafft, jeweils eine sehr kleine Rasse, denn 320 Quadratmeter sind ja auch nicht die Welt, Vögel, Bienen, Tauben und Schmetterlinge kamen von allein dazu. Die Bäume werden nicht allzu stark geschnitten, der Rasen nicht getrimmt, und alles, was aus Eisen oder Ton ist, darf Patina ansetzen. Kristina Engels sagt, sie arbeite nur eine Stunde pro Woche im Garten, mehr sei nicht nötig. Dass ihre drei Kinder, obwohl erwachsen, noch im Elternhaus wohnen, führt sie auf diesen Dachgarten zurück, in den die Freunde ihrer Kinder bis heute kommen und im Sommer grillen, bevor sie alle wieder in ihre Vorstadthäuser fahren.

Hinter den Gardinen liegt die Wohnung der Engels - ein Stockwerk unter den Enten, Schafen und Hühnern.

Die Engels in Antwerpen haben also vor zwanig Jahren etwas begonnen, was so neu und ungeheuerlich war, dass sie viele Jahre Scharen von Journalisten internationaler Design- und Gartenmagazine auf ihren Dachgarten geführt haben. Heute ist das auf der halben Welt fast normal. Die Menschen wohnen in der Stadt, wo es Arbeit gibt und Gleichgesinnte, und sehnen sich nach dem Land und guter Luft und gesunder Ernährung. Und wer sich kein Häuschen auf dem Land leisten kann oder es ablehnt, jeden Freitag und Sonntag eineinhalb Stunden im Stau zu stehen, holt sich eben ein Stückchen Land in die Stadt. Kaum ein Haus- dach ohne Bienenvölker, kaum ein Viertel ohne Verabredung zum Urban Gardening, Baumpatenschaften, Gemeinschaftsschrebergärten, Wildwuchs auf den Dächern. Berühmte Restaurants haben einen Garten auf dem Dach, auf dem Gemüse für die Küche angebaut wird, wie in Chris Spears Lokal »Uncommon Ground« in Chicago, oder sie befinden sich gleich auf dem Dach, wie das immer ausgebuchte »Stedsans« in Kopenhagen, wo man, wenn man erst mal die Treppe beim Fitnessstudio gefunden hat, unterm Zeltdach sitzt und auf die schier endlosen Reihen von Gemüse- und Blumenbeeten schaut. Alles frisch geerntet für das Abendmenü.

Die Betreiber des »Stedsans« pflanzen Obst und Gemüse aber nicht nur für ihre Küche an, sondern verkaufen es auch. Auf dem Dach ist also eine landwirtschaftliche Fläche entstanden, ähnlich wie mancherorts in New York oder London, in all den Superstädten, die sich ja auch dorthin ausgebreitet haben, wo früher Wiesen und Äcker waren und wo die Bezeichnung »Gemüse aus der Region« höhnisch klingt. Jetzt stimmt sie wieder.

Fotos: Mark Slootmaekers