Keiner sah, was Osman Kalin sah. Es war nur eine matschige Verkehrsinsel, an der kein Verkehr vorbeifloss, weil direkt dahinter, wo der Bethaniendamm zur Spree führt, zack, die Berliner Mauer die Realität abschnitt. Ende Jelände.
Kreuzberg in den Achtzigerjahren, das sieht nicht nur auf den alten Fotos so aus, wie es war: grau. Wer dabei war, wird bestätigen, dass der Himmel an 300 Tagen im Jahr die Farbe der Tauben annahm, die durch die Hinterhöfe gurrten, oder der Ratten, die durch die Kohlekeller irrten und am Kotti über die Lederjacken der Punks. Der Bezirk lag im Schatten der Mauer, es blühte höchstens Ärger, deshalb wuchs ja so viel anderes: Widerstand, Kunst, Weltanschauung. Wenn alles grau ist, willst du bunt sein, und wenn du eingemauert bist, frei. So kamen sie von überall, die vor Bundeswehr, Familie und Enge flohen. In den engen Kiez, in dem die Welt weit war.
In diese Heimat der Heimatlosen zog, der günstigen Miete wegen, 1980 Osman Kalin, geboren 1925, der seine Heimat, Yozgat in Mittelanatolien, verlassen hatte. Er wollte nie weg von den sonnigen Feldern, hatte es aber gemusst, seit er arbeiten, also seit er denken konnte, weil es nichts zu verdienen gab. Er ging und kam. Schon 1943 war Kalin in Deutschland, das noch ein Reich war. Er, klein und kräftig, hatte auf einem Schiff angeheuert, das Gurken in den Krieg lieferte.
1963 dann hatte Osman Kalin den Zug nach Österreich genommen, diesmal raus für immer, und auf Baustellen getan, was man ihm gesagt und was er nicht immer verstanden hatte. So ging es weiter, in Stuttgart, in Mannheim. Aber nun, da seine Kräfte schwanden, wollte er seine Frau Hatice und alle sechs Kinder nachholen. Die kleine Rente aus Deutschland hätte auch in Yozgat nicht für Großes gereicht. Außerdem war er schon zu lange weg.
Sie zogen an den Bethaniendamm. Kalin blickte aus dem Fenster auf den Mauerstreifen und erspähte dahinter ein Land, in dem die Tage noch grauer waren als in diesem Land, das ihm fremd geblieben war. Noch etwas sah Kalin vor der Haustür: die Verkehrsinsel, dreieckig, 350 Quadratmeter, auf die Leute Müll warfen. Er fragte den Nachbarn: »Wem gehören?« Er sprach gut für jemanden, der immer gearbeitet hatte. »Niemandem«, sagte der Nachbar. Und Osman Kalin sah in dem schmutzigen Stück Rasen: sein Land.
Als Kalin 1983 aufhörte zu arbeiten, konnte er anfangen zu arbeiten: Er räumte die Verkehrsinsel auf, jeden Tag, zimmerte aus dem herumliegenden Sperrmüll eine Hütte, zog einen Zaun, pflanzte Kürbisse, Bohnen, Kohl, Tomaten, Zucchini, einen Kirsch-, einen Aprikosen-, einen Birn- und den Apfelbaum, seinen liebsten. Nach zwei Wochen öffnete sich eine Luke in der Mauer, und ein Offizier sowie zwei NVA-Soldaten stapften auf Kalin zu. Die Verkehrsinsel gehörte zum Territorium der DDR. Beim Bau des Grenzwalls hatte man diesen Winkel Sozialismus, Beton war knapp, jedoch ausgelassen. Der Garten lag im Westen, zählte aber zum Osten. Das Land, das sich Osman Kalin, der nirgends hingehörte, ausgesucht hatte, gehörte nirgends hin.
Kalin sagte den Soldaten, er sei bloß ein alter Mann, der gärtnern wolle. Er soll den Offizier, frei übersetzt, »Eselssohn« genannt haben. Aber der Offizier mochte den Kerl, der mit der Gebetskappe und dem weißen Rundbart aussah wie das Ost-Sandmännchen. Er verteidigte ja nur sein Land, wie sie. Spätestens als die Grenzer vom Wachturm sahen, dass die West-Berliner Polizei Kalin aufforderte zu verschwinden, waren sie auf seiner Seite. Die Sache ging bis ins Zentralkomitee. Kalin erinnerte sich später: »Sie haben gesagt: In Ordnung! Machst du Garten!« Die Bedingungen: drei Meter zur Mauer. Die durfte nicht als Rankhilfe dienen. Und die Hütte nicht höher werden, eine potenzielle Fluchthilfe. Als die Sonnenblumen sich sehr hoch reckten, kappten die Soldaten sie.
Es begann, abgesehen davon, eine friedliche Koexistenz. Morgens grüßte Osman Kalin zum Turm, und sie grüßten zurück, na, efendi, wie geht’s? An Weihnachten brachten sie Kekse und Wein, aber den trank der fromme Kalin nicht und erfuhr auch nie, dass sein Sohn es stattdessen tat.
»Onkel Osman« wurde zu einer Kreuzberger Institution. Jeden Tag saß er, wenn er nicht selbst gezogenen Knoblauch zum Markt am Maybachufer brachte, in seinem weißen Plastikstuhl und rief jeden zu sich. Schulkinder, denen er von früher erzählte. Studenten, die in seiner Oase lernen durften. Punks, für die er Tee brühte, Çay. Sie nannten ihn Leo, weil er wie ein Löwe kämpfte für seinen Garten, wie sie für ihre besetzten Häuser. Als die Zwiebeln eines anderen Gastarbeiters, dem er eine Parzelle überlassen hatte, die Grenze zu seinem Gartenteil ignorierten, keilten sie sich. Und als Kalin Strafe zahlen sollte, weil er sich Gießwasser an einem städtischen Brunnen holte, schrieb sein Sohn den Behörden, er sei traurig, dass sie seinen Vater einen Dieb nennen. Das Verfahren wurde eingestellt. Osman Kalin zwang den anderen nicht seine Regeln auf. Aber die Regeln der anderen erschienen stets lächerlich angesichts seiner bescheidenen Wünsche.
Als dieses Land wieder ein neues wurde, ein vereintes, gehörte der Garten zum Bezirk Mitte, und dieser wollte gegen die »illegale Nutzung« vorgehen. Da protestierten die Nachbarn – und der Pfarrer Müller aus der benachbarten St.-Thomas-Kirche, der Kalin geholfen hatte, als die Hütte 1991 abgebrannt war, fand eine Karte von 1780, die zeigte, dass die Verkehrsinsel zum Gemeindegarten gehörte. Das war juristisch irrelevant, aber die Prinzipienreiter gaben wieder auf. 2004 ging das Grundstück im Zuge einer Grenzbegradigung an Kreuzberg, und man gestattete Kalin lebenslanges Nutzungsrecht.
Der einzige Kampf, den Kalin verlor, war der gegen den unnützen Götterbaum, der stur mit seinem Bretterhäuschen rangelte, das nach dem Fall der Mauer ein zweites Stockwerk bekam. Er kriegte den Baum nicht weg. Und respektierte, dass dieser genauso hartnäckig war wie er.
So vergingen die Jahreszeiten, Kalin saß unter seinem Apfelbaum und sah, wie das Kreuzberger Grau zu einem Glitzern wurde, die Fassaden neu, die Bewohner auch. Sogar der damalige türkische Präsident Gül kam am Rande eines Staatsbesuchs in diesen Garten, der als »Baumhaus an der Mauer« längst in den Reiseführern stand und gelegentlich im türkischen Fernsehen zu sehen war.
Bald war Kalins Lebenswerk die einzige Erinnerung an das alte Kreuzberg, aber Kalin selbst erinnerte sich immer weniger. Alzheimer. Nur in seinem Garten wirkte er noch, als wisse er, wo er sei. Er saß dabei, wenn die Familie grillte. Alle waren angekommen in diesem Land, in das Kalin allein gereist war. Eine Enkeltochter, geprägt vom Geschmack der großväterlichen Beete, betreibt ein Catering-Unternehmen für moderne türkische Küche. Die Tage, an denen Kalin die Kraft hatte rauszukommen, wurden seltener. Im April starb Osman Kalin, 92 Jahre alt.
Sein Sohn Mehmet kümmert sich jetzt um den Garten, den die Familie behalten darf. Er sagt, der Garten trage Trauer. Dieses Jahr gab es kaum Äpfel. Osman Kalin fehlt. Und seine Zeit und Liebe fehlt dem Garten. Aber der Sohn, ein Straßenbauer, wird wieder säen. Und vielleicht aus dem Häuschen ein Museum machen. Jeden Tag stehen Touristen an dem Bauzaun, den er aufgestellt hat. Nicht, weil dieser Garten der schönste wäre. War er nie. Dieser Ort fasziniert die Menschen, von nah und fern, weil er zeigt, dass jeder einen Platz hat. Und dass es sich lohnt, um diesen zu kämpfen. Osman Kalin ist tot. Aber alle können sehen, was er sah.