Meine Mutter liebte es, Geschichten über meine Schwester und mich zum Besten zu geben. Die Rollen waren klar verteilt: meine Schwester, die Wilde, Widerborstige; ich, das brave, angepasste Kind. Als Baby hätte ich nie geweint, hieß es. Während andere Kinder durch die Trotzphase gingen, hätte ich zufrieden mit Holzbauklötzchen gespielt. »Drei Kieselsteine waren genug«, um mich den halben Tag zu beschäftigen. In der Schule hätte ich es tapfer ertragen, von einem Insekt zerstochen zu werden, um den Unterricht nicht zu stören.
Das brave Kind. Nie aufbegehrend, nie fordernd, nie laut, nie wild und vor allem: niemals anstrengend.
Solange ich mich zurückerinnern kann, war meine Mutter krank. Als Kinder begleiteten wir sie fast täglich zum Arzt. In der Ehe meiner Eltern lief es nicht gut. Meine Schwester reagierte auf die Spannungen mit Rebellion. Ich mit Rückzug. Ich baute mir meine eigene Welt. Das wurde belohnt. Ich war die gute Tochter. Nicht, dass meine Schwester nicht auch eine gute Tochter gewesen wäre, wie meine Mutter sich immer beeilte anzufügen, »aber sie ist halt wilder«.
Mit 14, als andere Teenager anfingen aufzubegehren, saß ich mit meiner Mutter, frisch geschieden, brav auf dem Balkon. Ich sah zu den Sternen auf und träumte von der Ferne. Von Paris. Es sollte dreißig Jahre dauern, bis ich Paris sah. Es war ein langer Weg dorthin. Der Weg fort von der guten Tochter.
Mit 16 ging ich in die Ausbildung, eine sichere Stelle, Beamtin, »Mädchen heiraten sowieso«, sagte meine Mutter. Ich ärgerte mich über solche Sätze, sagte aber nichts. Ich verschlang die Biografie von Isabelle Eberhardt, einer Reiseschriftstellerin, nahm mir vor, mein Abitur nachzuholen, zu studieren, frei zu sein. Kinder und Ehe kamen in meinen Träumen nicht vor.
Mit 18 lernte ich einen Mann kennen, die große Liebe, und erzählte ihm von meinen Träumen. Er meinte, es würde reichen, wenn einer von uns beiden
studiert. So studierte er. Zehn Jahre später heirateten wir, ich wurde Hausfrau. Meine Mutter war glücklich, mein Mann war glücklich, ich war glücklich. Ich kannte mich aus in der Rolle der guten Tochter.
Irgendwann hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich begann zu schreiben. Ein stiller Protest, ich hatte ja nie gelernt, laut zu sagen, was ich wollte. Nie gelernt, die Reaktion der anderen auszuhalten, wenn ich etwas tat, was ihnen missfiel.
Ich hörte die Stimme meiner Mutter am Telefon, den Vorwurf in ihr. Sie war gekränkt, ich hatte jetzt weniger Zeit für die Dinge, die ihr wichtig waren: den Haushalt, die Kinder. Ich wollte ihre Ratschläge nicht mehr hören. Die Fehler, die ich machen würde, sollten meine eigenen sein.
Ich trennte mich von meinem Mann. Ich zögerte lange, ehe ich mit meiner Mutter darüber sprach. Sie hatte Angst, verstand mich nicht. Ich verstand, dass sie sich nicht auskannte in einer Welt, in der eigene Wünsche wichtig waren. Aber als sie sah, dass ich nicht unterging, machte sie ihren Frieden mit mir. Ich hatte rebelliert – und blieb eine gute Tochter.
Illustration: Dilraj Mann