Hier geht es um Verbrechen. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Niemand darf darüber hinwegsehen. Auch Sie nicht. Wer an dieser Stelle nicht weiterliest, dem bedeuten Nächstenliebe und Gerechtigkeit rein gar nichts. Wer wirklich ein Herz hat, der muss jetzt einfach weiterlesen.
Es geht um emotionale Erpressung. Wir haben es soeben in den ersten sieben Zeilen dieses Textes kurz mit Ihnen versucht. Aber Redakteure und Autoren sind als Erpresser natürlich nur wenig einschüchternd; was uns dazu fehlt, ist Ihre gefühlsmäßige Bindung an uns: Wir sind Ihnen, liebe Leser, einfach nicht wichtig genug.
In Beziehungen aber wirkt emotionale Erpressung wie der Biss einer Kobra – je näher am Herzen, desto tödlicher. Die giftigste Erpresserin nennen wir »Liebling«. Sie liegt zum Beispiel neben uns im Bett und sagt: »Ich verstehe dich nicht. Ich würde nie versuchen, mit dir zu schlafen, wenn ich sehe, dass du erschöpft bist. Dieser Egoismus ist mir völlig fremd…« Eine erpressungstechnische Meisterleistung: Zunächst wird liebevoller Verständniswille angetäuscht – und schon Nanosekunden später in vollen Druck umgewandelt. Wir sind schlecht, denn wir verletzen den kategorischen Imperativ und tun der Frau an, was sie uns nie antun würde! Was uns bleibt, ist die Freiheit zu entscheiden, ob wir ein pathologischer Egoist sein wollen, der abstreitet, ein patho-logischer Egoist zu sein – oder einer, der es zugibt. Willkommen im Minenfeld der emotionalen Erpressung.
Bevor jetzt unter Leserinnen schlechte Stimmung aufkommt, eine höfliche Vorbemerkung: Diese Ausgabe des SZ-Magazins beschäftigt sich ja ausschließlich mit Männerthemen, deshalb sei es erlaubt, sich auch in diesem Text auf die männliche Perspektive zu beschränken (aber uns ist natürlich völlig klar, dass oft genug auch Frauen Opfer emotionaler Erpressung sind).
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Woher kommt die emotionale Erpressung? Wie entwickelt sich dieses Muster?
Wenn unsere emotionale Lebensabschnitts-Erpresserin ihre Wünsche erfüllt haben möchte, sagt sie: »Warum gerate ich immer an so unsensible Männer?« Sie sagt: »Wenn du mich lieben würdest, hättest du dich gar nicht erst mit dieser Katrin verabredet!« Und wenn sie dagegen ist, dass wir am Wochenende zum Surfen fahren: »Es fällt ja auch anderen schon auf, wie wenig du dich für mich interessierst.«
Emotionale Erpressung ist der Versuch, jemand anderen über seine Gefühle so zu beeinflussen, dass er die Bedürfnisse des Erpressers erfüllt. »Wohlwissend, dass jeder Mensch sich nach Liebe und Anerkennung sehnt, droht der Erpresser damit, ebendies zurückzuhalten oder ganz fortzunehmen, oder er gibt dem anderen das Gefühl, dass er sich alles erst verdienen muss«, schreibt die amerikanische Psychologin Susan Forward, die sich in ihrem Grundlagenwerk Emotionale Erpressung mit vergifteten Beziehungsstrukturen befasst.
Und deshalb seufzen Erpresserinnen ganz leise, wenn sie wissen, dass wir es hören. Sie leiden demonstrativ tapfer, wenn sie sicher sind, dass wir es bemerken. Ganz zart lassen sie Schuld auf unser Haupt rieseln. »Es ist nicht schlimm, Schatz, ich weiß ja, dass du meinen Geburtstag nicht so wichtig findest!«
Woher kommt das? Wie entwickelt sich dieses Muster? Die Kunst der Erpressung wird in jeder Familie von Generation zu Generation gelehrt, das beginnt schon ganz früh. Trainiert wird gern im Supermarkt. »Mama geht jetzt!«, sagt die Mutter zum trotzigen Kind, das nicht vom Süßigkeitenregal weichen will. Natürlich gehen Mamas nicht. Sie warten nur, bis die Trennungsangst ihre kleinen Helden in hilflose Bäche aus heißen Tränen und hundert Dezibel Schmerz verwandelt.
Genau das ist später die Basis der emotionalen Erpressung: Greife dort an, wo die alten Hirnteile regieren. Wo es nicht um peanuts wie Ehre oder Erfolg geht, sondern gleich um das große Ganze. Um Bindung. Erpressung wirkt nur, wenn etwas wirklich Wichtiges auf dem Spiel steht. Am besten das Leben selbst. Genauso fühlt es sich für Kinder an: alles oder nichts. Warum aber handeln Erwachsene später selbst so? Ganz einfach: Wir lernen durch Lob oder Strafe, ein Leben lang. Wenn genervte Erziehungsberechtigte zur Psycho-Manipulation greifen, dann werden Kinder zu Opfern. Und so lernen sie mit der Zeit selbst, wie man als emotionaler Erpresser vorgeht. Vereinfacht gesagt: Kinder lernen a) immer Opfer zu sein und b) Täter zu werden.
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Wir sollten unsere Frau oder Freundin verstehen. Sie meint es wirklich nicht böse, wenn sie uns vorwirft, wir würden ihr den ganzen Tag vermiesen, weil wir keine Lust haben, mit ihr joggen zu gehen. Sie spielt wieder durch, was sie als kleines Mädchen gelernt hat: dass niemand offen für ihre Bedürfnisse ist, wenn sie keinen Druck und kein Drama inszeniert. Und deshalb nimmt sie als Erwachsene unbewusst die Position der emotionalen Erpresserin ein.
Männer und Frauen verhalten sich in diesem Hin und Her unterschiedlich, die Geschlechter bleiben ihrem kleinen Unterschied treu. Er spielt mit Macht. Sie setzt auf Ohnmacht. Er sucht Dominanz, sie Beziehungen. Doch im intimen Beziehungspoker bestimmt meistens der Schwächere das Spiel. Wenn einer erschöpft ist, ist die Fahrradtour beendet. Wer weniger Lust hat, bestimmt die Orgasmus-Quote. Wer nicht mehr will, das Ende der Beziehung. Männer ziehen anders in den emotionalen Krieg: mit entwertenden Worten, mit Lautstärke, mit Drohungen, mit Geld und Status.
Aber ganz gleich mit welchen Mitteln und auf welchem Niveau sich all das abspielt – der Tatort der Ungeheuerlichkeiten ist stets der gleiche: das Gewissen. Die psychische Instanz, der sich Freud einst mit dem Begriff »Über-Ich« näherte. Der Teil unserer Psyche, der uns in Bezug zu den anderen Menschen setzt: Vor den anderen schämen wir uns, wegen des Leids der anderen fühlen wir uns schuldig. Durch Schuld und Scham sind wir an die sozialen Regeln unserer Kultur gebunden.
Also: Wer sich vor emotionaler Erpressung schützen will, muss nicht den Partner entwaffnen, sondern das eigene Gewissen. Wenn die Klage lautet: »Ja, fahr du nur zu deinen Kumpels, ich bin es ja gewohnt, mit dem Kleinen allein zu sein!«, dann hilft als Antwort erst mal: »Moment, ich will das nicht sofort entscheiden.« Denn die erste Regel lautet: Lass dich nicht unter Druck setzen. Gegen Zeitdruck kann und darf man sich wehren.
Die zweite Regel: Begegne den drei Dämonen Angst, Schuld und Verpflichtung entschieden. Dabei muss man sich fragen: Wovor habe ich eigentlich Angst? Was ist das Schlimmste, was passieren kann? An gründlicher Selbsterforschung kommt man hier leider nicht vorbei. Und dann die Schuld: Fällt das Schlagwort »Rabenvater«? Oder kommt gar die Anklage auf Beziehungsunfähigkeit, mittlerweile das Golden Goal im Geschlechterkampf? Ein Schuss, und das Männerteam liegt flach – die Frage ist aber: Habe ich wirklich Grund, mich schlecht zu fühlen? Der Verstand muss unterscheiden, ob wir tatsächlich gegen gemeinsame Werte in der Beziehung verstoßen. Oder ob nur unsere Bereitschaft, Schuld zu empfinden, ausgenutzt wird. Wenn das Gewissen schweigt, schlägt die Erpressung fehl. So einfach ist das. Und auch so schwer.
Und schließlich Regel drei: Konfrontiere den Partner. Keine Rechtfertigungen, keine Vorwürfe. »Liebe Erpresserin, ich weiß, dass ich gerade eine Entscheidung treffe, die dir nicht gefällt. Aber das ist kein Beleg mangelnder Liebe. Suchen wir gemeinsam nach Wegen, wie wir damit umgehen. Lass uns darüber reden.«
Emotionale Erpressung, so sieht es leider aus, hat zurzeit Hochkonjunktur. Denn in einer Kultur, in der wir vom Stromanbieter bis zur frei wählbaren Lieblingsperversion ständig alles Mögliche entscheiden müssen, mutiert unser Gewissen zum Topmanager – ultraflexibel, aber immer überfordert. Das merken wir schon bei kleineren Entscheidungen im Alltag (mal einen halben Tag blau-machen? Menschen auf der Straße helfen? Spendenaufrufen nachkommen?). Aber in unseren intimen Beziehungen kommt das besonders zum Tragen. Die traditionellen Rollenbilder sind hinfällig, Partnerschaft ist heute immer Verhandlungssache. Und ist somit ein besonders fragiles Gebilde, in dem jederzeit alles in Frage gestellt werden kann. Was also tun? Das Grundgesetz jeder verbrecherischen Erpressung gilt auch in der Gefühlswelt: Wer zahlt, hat verloren. Denn wer einmal zahlt, zahlt wieder – und dann mehr.