Seine Vergangenheit am Internat von Kloster Ettal holt Roman Hofer* am Morgen des 5. März 1999 ein, auf der Bundesstraße B 20 zwischen Straubing und Landau in Niederbayern. Als er den Verkehr im Rückspiegel beobachtet, kann er plötzlich seine Augen nicht mehr kontrollieren, sie rollen zur Seite, sein Puls beginnt zu rasen, er fängt an, heftig zu schwitzen. Auf der Rückbank sitzt sein sechsjähriger Sohn.
»Was passiert mit ihm, wenn ich jetzt sterbe?«, schießt es Roman Hofer durch den Kopf. Er schafft es noch bis zum nächsten Parkplatz und ruft dort den Notarzt. Im Krankenhaus wird er gefragt, ob er schon mal einen Herzinfarkt hatte. »Herzinfarkt, mit 35?«, entgegnet Hofer irritiert, »ich bin Langstreckenläufer, ich trainiere fast jeden Tag!« Nach fünf Tagen EKG und Betablockern wird er entlassen, ohne Diagnose, aber mit dem Rat, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Der hört sich seine Symptome an, dann fragt er: »Junge, wer hat dich in deiner Kindheit ermordet?«
Wenn die Psyche eines Menschen von dem überwältigt wird, was ihm das Leben angetan hat, sendet sie Warnsignale an den Körper, so erklärt es ihm der Therapeut. Roman Hofer wurde zwischen seinem 12. und 17. Lebensjahr am Kloster Ettal vom Erzieher Pater Magnus mindestens fünfzigmal missbraucht; »Sexualverkehr in allen Varianten«, so beschreibt es Hofer. Nur die Küsse des Geistlichen konnte er abwehren. Zum Missbrauch durch Pater Magnus kamen die Prügel des Paters Gabriel, der ihn in der sechsten Klasse regelmäßig wegen schlechter Noten schlug, mit der flachen Hand und voller Wucht auf den nackten Hintern des damals Zwölfjährigen.
Nach seinem Zusammenbruch auf der Bundesstraße fängt Roman Hofer eine Therapie an, langsam gewinnt er wieder die Kontrolle über sich, die Schweißausbrüche werden weniger. Zurück bleiben tiefe Selbstzweifel - und Hass: Fast jedes Jahr denkt er an Ostern darüber nach, den Festgottesdienst in der Ettaler Klosterkirche zu stürmen und »rauszuschreien, was für Schweine hier am Werk sind«. Als Ende Februar 2010 die Zeitungen berichten, im Internat von Kloster Ettal seien Schüler von Geistlichen sexuell missbraucht worden, kann er es kaum fassen. Zum ersten Mal wird ihm klar, dass er nicht das einzige Opfer war.
Die Klosterleitung scheint schnell und vorbildlich zu reagieren: Der Abt und der Schulleiter treten zurück, obschon die beiden kein direkter Vorwurf trifft. Es wer- den Entschuldigungen verlesen, Ansprechpartner für ehemalige Schüler benannt und ein externer, unabhängiger Sonderermittler eingesetzt, der die Verbrechen schonungslos aufklären soll. Am 5. März 2010 tritt der Sonderermittler, der Münchner Anwalt Thomas Pfister, vor die Presse, auf den Tag genau elf Jahre nach Roman Hofers Zusammenbruch, und erklärt, im Kloster Ettal seien zwischen 1960 und 1990 mindestens hundert Schüler von zehn Patres systematisch misshandelt und missbraucht worden.
Ausgerechnet Ettal, die bayerische Eliteschmiede, durch die unter anderem Ex-Ministerpräsident Max Streibl, der frühere Adidas-Chef Horst Dassler, Theaterintendant Christian Stückl und der oberste Wittelsbacher Herzog Franz gingen. Sonderermittler Pfister liest 40 Minuten lang vor laufenden Fernsehkameras Leidensberichte von früheren Internatsschülern vor. Eine ähnlich detaillierte Offenlegung von Opfervorwürfen hat es bis dahin weder an der Odenwaldschule gegeben noch an anderen Internaten, die seit Anfang dieses Jahres von dem Missbrauchsskandal erschüttert werden.
In derselben Pressekonferenz gesteht ein Pater unter Tränen, selbst ebenfalls »Kinder brutal misshandelt und gedemütigt« zu haben - ein Auftritt, der vermutlich in keinem Fernseh-Jahresrückblick 2010 fehlen wird. Bei Roman Hofer keimt 26 Jahre nach seinem Abitur im Kloster Ettal die Hoffnung, ihm könnte nach all den schrecklichen Erlebnissen nun endlich so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren.
(Wie schwierig es ist, so etwas wie Gerechtigkeit zu finden, und wie das Kloster dabei nicht wirklich mithilft, lesen Sie auf der nächsten Seite.)
Drei Monate später ist von dieser Hoffnung wenig geblieben. Die Zeitungen beschäftigen sich mit der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, dem Niedergang des Euro und Lena Meyer-Landrut. Das Kloster Ettal hat die öffentliche Aufarbeitung des Missbrauchsskandals weitgehend eingestellt und lehnt Gesprächsanfragen kategorisch ab: Man habe Besuch vom Visitator erhalten, einem Abgesandten des Papstes, und warte nun auf Weisungen aus Rom. Auch das zuständige Erzbistum München-Freising schweigt. Der unbequeme Sonderermittler Pfister darf nicht mehr reden, sein Auftrag ist beendet, das Mandat ausgelaufen, und das Kloster fordert ihn bereits per Anwaltsbrief zur strikten Einhaltung der Schweigepflicht auf.
Dabei gäbe es viel zu erklären: Wie war es möglich, dass über Jahrzehnte Patres prügelten und ihre sexuellen Fantasien auslebten, ohne dass die damalige Klosterleitung, andere Erzieher oder die Eltern eingriffen? Was passiert nun mit den Tätern? Und was mit den Opfern; ist angesichts der Schwere der Verbrechen eine Wiedergutmachung überhaupt denkbar? Aber wer drei Monate nach Bekanntwerden des größten Skandals in der 680-jährigen Geschichte des Klosters Ettal Antworten sucht, bekommt nur düstere Andeutungen zu hören, die an Umberto Ecos Roman Der Name der Rose erinnern: Hinter vorgehaltener Hand ist von Mönchen die Rede, die gefährlich sind, die hinter den Klostermauern mit aller Macht die Wahrheit vertuschen; von Mönchen, die Intrigen spinnen, die bis zum Vatikan reichen; von Mönchen, die mit dem katholischen Geheimbund Opus Dei in Verbindung stehen.
Wie konnte das anfangs doch so vorbildlich reagierende Kloster derart schnell seine Glaubwürdigkeit verspielen?
Tatsächlich - und das wird jenseits des geheimnisvollen Raunens in den Gesprächen schnell klar - wurde die Offenheit dem Kloster von Anfang an von außen aufgezwungen. So traten der Ettaler Abt Barnabas und der Schulleiter Pater Maurus im Februar keineswegs freiwillig zurück: Erzbischof Reinhard Marx, der öffentlich auf rückhaltlose Aufklärung pochte, drängte beide regelrecht aus dem Amt, als bekannt wurde, dass sie einen Vorfall aus dem Jahr 2005 dem Bistum verschwiegen hatten. Damals hatten sich mehrere Internatsschüler beschwert, ein Pater habe sie »an Armen, Körper und Beinen gestreichelt«.
Der Abt und sein Schulleiter hielten den Vorfall, den inzwischen die Staatsanwaltschaft untersucht, nicht für meldenswert - ein klarer Verstoß gegen die Richtlinien, welche die Deutsche Bischofskonferenz 2002 erlassen hat, um sexuellen Missbrauch in der Kirche zu verhindern. Auch die Aufsehen erregende Pressekonferenz vom 5. März empfanden die Mönche nicht als Befreiung, sondern als Demütigung. Sie nahmen dem Sonderermittler Pfister übel, dass er die Schandtaten ihrer Brüder derart ausbreitete - 40 Minuten lang - und mit der vernichtenden Wertung zusammenfasste, am Kloster Ettal hätten Mönche über Jahrzehnte Schüler »systematisch misshandelt und missbraucht«.
Und sie waren aufgebracht darüber, dass Pater Johannes zu jenem Geständnis, er habe »Kinder brutal misshandelt und gedemütigt«, erpresst wurde: Ein ehemaliger Schüler hatte eine Stunde vor der Pressekonferenz telefonisch gedroht, er werde Ärger machen, wenn der Pater nicht mit genau diesen Worten seine eigenen Verfehlungen einräume. Daraufhin kroch Pater Johannes, live übertragen vom Fernsehen, zu Kreuze. Nach dieser erzwungenen öffentlichen Reue versucht das Kloster in den folgenden Wochen, wieder Herr seiner Entscheidungen zu werden, und relativiert das so unfreiwillige wie umfangreiche Schuldbekenntnis Schritt für Schritt.
Im Bayerischen Fernsehen beschwert sich der ehemalige Ettaler Internatsdirektor Pater Angelus, dass nun alles in einen Topf geworfen würde, es handle sich doch nur um »einzelne Fälle, die diesem und jenem Schüler auch in Erinnerung sein mögen«. Der von mehreren Ex-Schülern als Sadist beschriebene Pater Gabriel lässt verlauten, er habe es mit der »sogenannten Null-Bock-Generation« zu tun gehabt, die nur durch Schläge in den Griff zu bekommen war.
Elternsprecher des Klosters bestreiten öffentlich die systematische Anwendung von Gewalt in Ettal und sprechen von vereinzelten Ohrfeigen. Zu den Missbrauchsfällen heißt es lapidar, Krankheit und Kriminalität existierten eben überall. In einem Internetforum, in dem mehr als 500 ehemalige Ettaler Schüler über den Missbrauchsskandal diskutieren, müssen sich Opfer plötzlich als Nestbeschmutzer und Trittbrettfahrer beschimpfen lassen. Das Kloster selbst verstrickt sich in einen bizarren öffentlichen Streit mit dem Erzbistum, der darin gipfelt, dass es dem Bistum per Pressemitteilung vorwirft, bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals Lügen zu verbreiten. Gleichzeitig beschweren die Mönche sich beim Vatikan über das Vorgehen und einzelne Mitarbeiter des Bistums.
Nach außen ist die neue Politik des Klosters spätestens am 14. April sichtbar: Im Kloster wird der Schlussbericht des Sonderermittlers Thomas Pfister über den Missbrauch von Schülern vorgestellt - ohne Thomas Pfister. Die Präsentation hat ein anderer Anwalt übernommen, den das Kloster kurzfristig verpflichtet hat. Er soll Pfisters Bericht »juristisch aufarbeiten«, was ein wenig so klingt, als gelte es, Fehler in dem Dokument zu beseitigen. Beraten wird das Kloster bei seinem Rückzugsgefecht vom Münchner Anwalt Aribert Wolf, einem früheren CSU-Politiker. Wolf, der seine Polit-Karriere nach einigen Affären und zwei erfolglosen Kandidaturen für den Posten des Münchner Oberbürgermeisters aufgab, war bis 2007 Präsident der Rhein-Donau-Stiftung, die der erzkonservativen Glaubensgemeinschaft Opus Dei nahe steht.
Nicht nur das Münchner Erzbistum findet die neue Linie des Klosters »befremdlich«. Auch die Opfer bekommen den Kurswechsel zu spüren. Bereits im März wird ein »Runder Tisch« im Kloster eingerichtet, an dem Opfer, Vertreter des Klosters und externe Berater über Entschädigung und Wiedergutmachung diskutieren. Dort nimmt auch Pater Johannes Platz, der selbst geprügelt hat - für viele Betroffene ein Affront. Vor allem aber bleiben die Treffen weitgehend folgenlos. Für einen längst beschlossenen Ort der Besinnung zum Beispiel, der eingerichtet werden sollte, um der Opfer des Missbrauchs zu gedenken, hat sich drei Monate später angeblich noch immer kein geeigneter Raum gefunden, in einem Klosteranwesen mit mehr als 25 000 Quadratmeter Grundfläche.
(Warum die ehemaligen Schüler und viele der Missbrauchsopfer die Aufarbeitung der Fälle für gescheitert halten, lesen Sie auf der nächsten Seite.)
Aus Sicht vieler ehemaliger Schüler ist die Krisenbewältigung des Klosters gescheitert. Sie fühlen sich hingehalten und behandelt wie Schulbuben. Der Ausdruck vom zweiten Missbrauch macht die Runde. Den meisten Opfern geht es nicht nur um ihr eigenes Schicksal, sie empört, wie von Seiten des Klosters und seiner Unterstützer die Vorfälle aus der Vergangenheit kleingeredet werden. Und wie wenig tatsächlich passiert.
Roman Hofer, den wieder Schweißausbrüche und Magenprobleme plagen, seit der Fall Ettal publik wurde, will sich selbst ein Bild machen. Er fährt im Mai nach Ettal, um mit dem früheren Abt Barnabas über seine Schadensersatzforderungen zu sprechen. Nach der Zeit in Ettal litt Hofer lange unter Kontaktphobie, er stotterte, wenn er Frauen traf, er scheiterte immer wieder beruflich, er kam nicht von Ettal los. Jetzt will er entschädigt werden dafür, dass die Mönche an ihm ihren Sadismus und ihre sexuellen Perversionen auslebten. In Los Angeles zahlte die katholische Kirche Missbrauchsopfern durchschnittlich 1,3 Millionen Dollar, hat Hofer gelesen. »Wieso soll mein Leben der Kirche weniger wert sein?«, fragt er Pater Barnabas. Der Abt bleibt eine konkrete Antwort schuldig.
Ende Mai, das Kloster lehnt die dritte Gesprächsanfrage des SZ-Magazins ab. Erst war es der Visitator, der noch nicht gesprochen hatte, dann der Schulbetrieb, der nicht gestört werden sollte, und nun sind Pfingstferien und die Patres »nicht greifbar«, sagt der Sprecher. Dafür melden sich immer mehr ehemalige Internatsschüler, es hat sich herumgesprochen, dass das SZ-Magazin an einem Beitrag über das Kloster Ettal recherchiert. Die meisten Ex-Schüler haben sich bislang zurückgehalten und sich nicht öffentlich geäußert; sie wollten dem Kloster Zeit geben. Nun ist ihre Geduld am Ende, jetzt wollen sie reden.
Es sind erwachsene Männer, zwischen 40 und 60 Jahren, die stockend aus ihrer Jugend erzählen, über Stunden hinweg, viele wütend, manche weinend. Fast alle waren in Therapie, manche haben es bis heute nicht fertiggebracht, mit ihren Frauen über den Missbrauch zu sprechen. Und nun sind sie entsetzt, wie man sich in Ettal aus der Verantwortung stehlen will.
Selbst ehemalige Schüler, die nicht missbraucht oder geschlagen wurden, empört das sture Beharren im Kloster auf der Feststellung, Fälle von Missbrauch und Gewalt habe es am Kloster nur vereinzelt gegeben. Ihre Schilderungen belegen das Gegenteil: wie sehr der Klosteralltag für viele Schüler von Angst und Schrecken geprägt war. Bis in kleinste Details gleichen sich dabei die Eindrücke der Ex-Ettaler, egal ob sie die Internatspforte 1965 oder 1985 zum ersten Mal durchschritten: ein Schlafsaal, den sich 40 Schüler teilen, Holzbett, Nachtkästchen, kein Poster, kein Kuscheltier. Keine Möglichkeit, allein zu sein.
Waschbecken mit schmiedeeisernen Armaturen. Die ersten Monate kein Kontakt zu den Eltern. Morgens Schule, dann Mittagessen, zwei Stunden Sport, Musik oder Freizeit, dann Lernen, Abendessen, noch mal Lernen, eine Stunde Freizeit, Bett. Am Samstag Schule, am Sonntag Gottesdienst, danach eine Stunde Briefe schrei- ben an die Eltern, die vor dem Absenden der Präfekt liest. Und Schläge. Schläge wegen schlechter Noten, Schläge, wenn der Teller nicht leer gegessen wird, Schläge, wenn abends im Schlafsaal geredet wird, nachdem das Licht aus ist.
Pater Laurentius schlägt mit seinem Gürtel, Pater Gabriel mit der flachen Hand, Pater Godehard schlägt mit allem, was wehtut, und sei es sein Gipsarm, Pater Johannes mit dem Kleiderbügel, Pater Edelbert mit dem Stock. Abends läuft Pater Magnus durch die Schlafsäle und greift nach dem Gutenachtsagen jedem Jungen, der sich nicht wehrt, in die Schlafanzughose. Die einzige Möglichkeit, den Kummer mit den Eltern zu teilen: ein Telefonhäuschen, das abends eine Stunde lang benutzt werden darf. Jeden Abend bildet sich eine Schlange davor, und während der Erste noch wählt, klopfen die anderen schon ungeduldig ans Fenster.
»Es war ein satanischer Ort, ich war nirgends sicher«, sagt Alfons Maier, der 1965 ins Klosterinternat kam und die schlimmste Zeit dort miterlebte, die Sechziger- und Siebzigerjahre, als fast alle Mönche zuschlugen. Seine Bilanz: sieben Jahre Ettal, fünf Jahre Therapie, viele Jahre schwere Depressionen. Pater Godehard hielt ihn an einem Arm zum Fenster hinaus, im zweiten Stock, und lachte nur, während Maier dachte, er müsse sterben. Der pädophile Pater Magnus würgte ihn in der Schwimmhalle mit dem Handtuch so lange, bis er ohnmächtig wurde, und als er aufwachte, lag der Pater, nur mit der Badehose bekleidet, über ihm. Besonders der spätere Abt Edelbert hat ihn schwer misshandelt, Pater Gabriel schlug ihn.
»Ich war allein, ich hatte niemanden, der mir half«, sagt er, und die Mundwinkel zucken. Von Mitschülern war keine Solidarität zu erwarten: Sie duckten sich weg, um nicht selbst den Zorn eines wild gewordenen Paters auf sich zu ziehen. Und die Eltern? Maier lächelt. »Sie haben mir nicht geglaubt. Es waren ja Mönche, die uns misshandelten - das hat keiner geglaubt.«
Wie in jedem Schreckensregime gibt es auch am Kloster Ettal Privilegierte: Meist sind es Schüler aus einflussreichen, wohlhabenden Familien, die schon in dritter oder vierter Generation ihre Kinder auf die Klosterschule schicken. Gebrochen werden vor allem die Schüler, die wenig Selbstbewusstsein haben und aus einfachen Verhältnissen stammen, was für die prügelnden Mönche bedeutet: Aus dem Elternhaus ist nicht viel Widerstand zu erwarten. Der pädophile Pater Magnus greift sich vor allem Schüler heraus, denen eine Vaterfigur im Leben fehlt, Waisen oder Scheidungskinder - auch das hat System.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Leitung der Kloster Ettal versucht, mit der Schuld umzugehen und was die Missbrauchsopfer jetzt fordern.)
Anfang Juni, es gibt noch keine Kunde vom päpstlichen Visitator, trotzdem stimmen die Mönche plötzlich einem Treffen mit dem SZ-Magazin zu. Ob die kurz zuvor ans Kloster versandte Liste mit detaillierten Fragen zu den Sexual- und Prügelpraktiken der Patres den Anstoß gegeben hat? Belegte Brote und Gebäck stehen bereit, außerdem »Harmonietee« aus klostereigener Produktion und gleich vier Patres: Abt Pater Barnabas, im Februar als Klosterleiter zurückgetreten, Pater Maurus, im Februar als Schulleiter zurückgetreten, Pater Johannes, der live im Fernsehen Misshandlungen gestanden hat, und Pater Emmeram, der dem Kloster seit Februar übergangsweise vorsteht. Er wird im Verlauf des dreistündigen Gesprächs drei Sätze beisteuern. Auch Rechtsanwalt Aribert Wolf sitzt mit am Holztisch.
Es folgen plausible Erklärungsversuche und ehrliche Schuldeingeständnisse - aber auch Ausreden, offensichtliche Widersprüche, juristische Spitzfindigkeiten. Die heute verantwortlichen Mönche zeichnen das Bild eines Internats, dessen Erzieher jahrzehntelang überfordert waren. Ein Pater betreute 50 oder 60 Schüler, sieben Tage die Woche. Bis 1980 gab es keinen Sozialpädagogen am Eliteinternat Ettal. In ihrer Hilflosigkeit hätten viele Patres begonnen zu prügeln. Geredet habe man darüber aber nicht, auch nicht über den sexuellen Missbrauch von Pater Magnus, dessen Treiben im Kloster lange bekannt war.
Dieses Schweigen war ein Fehler, räumen die Patres heute ein, ebenso wie die Entscheidung der damals Verantwortlichen, den pädophilen Pater Magnus nach zwei Suspendierungen wegen Missbrauchsvorwürfen jedes Mal wieder zurück an Internat und Schule zu holen. »Man sprach mit ihm und dachte, er würde sein Verhalten schon ändern«, sagt Pater Maurus. Erst im Jahr 2010 habe das Kloster das volle Ausmaß seiner Taten erkannt.
Zumindest Letzteres ist wenig glaubhaft: Es gab nicht nur die beiden Zwangsversetzungen von Pater Magnus in den Jahren 1969 und 1984, jeweils wegen Missbrauchsvorwürfen, es meldeten sich auch wiederholt ehemalige Schüler im Kloster und berichteten von den Verbrechen des Paters. Und dennoch verblieb der Serientäter bis zu seinem Tod im Kreis seiner Mitbrüder, und auch danach distanzierte das Kloster sich nicht von ihm: Im Kreuzgang der Klosterkirche befindet sich bis heute seine Grabtafel, in einer Reihe mit den anderen verstorbenen Mönchen des Klosters.
Zu einigen Fragen schweigt die Runde an diesem Abend, etwa als es um die Rolle von Erzbischof Marx geht, der öffentlich immer wieder die Aufklärung der Missbrauchsaffäre in Ettal forderte, dem Kloster wohl zu öffentlich. Und vieles bleibt im Ungefähren: Opferentschädigung? Im Prinzip ja, in realistischer Höhe. Was genau realistisch bedeutet, wollen die Mönche nicht erklären. Aufarbeitung? Ja, aber es dürfe nicht ausufern. »Wir haben ja nicht nur die Aufgabe, die Vergangenheit aufzuarbeiten, wir müssen uns auch um die Schüler kümmern, die heute im Internat sind«, sagt Ex-Abt Pater Barnabas, manche Eltern hätten schon angemahnt, der Missbrauchsskandal dürfe »nicht zum Dauerthema werden«. Vor allem, weil doch seit 1990 kaum mehr etwas vorgefallen sei.
Und immer wieder geht es um die Einordnung der Vorfälle, »systematisch« oder »schreckliche Einzelfälle«? Letztlich bleibt es dabei: Die Mönche wollen in den Verbrechen kein System sehen, weil es niemand gab, der den Missbrauch und die Gewalt gesteuert hat. Dass aber fast alle im Kloster den Missbrauch und die Gewalt hinnahmen und über Jahrzehnte niemand im Kloster den Missbrauch und die Gewalt verhinderte, blenden die Mönche heute aus.
Ein zweites Treffen, einige Tage später im Garten der Klostergaststätte. Dieses Mal spricht nur Abt Barnabas, der, obwohl als Leiter längst zurückgetreten, offenbar weiter die Linie des Klosters vorgibt, und zum ersten Mal spricht er auch über die Reaktion des Klosters auf den Missbrauchsskandal: »Wir waren mit vielem, was über uns hereingebrochen ist, total überfordert. Auch ich war blauäugig, aber ich bin Lehrer und Theologe, und kein Psychologe oder Jurist. Deshalb waren und sind wir auf Rat von außen angewiesen.« Wenige Tage später ist zu erfahren, dass die Mönche zumindest auf den Rat des umstrittenen Ex-Politikers und Anwalts Aribert Wolf künftig wieder verzichten wollen.
Vielleicht war es tatsächlich die Unbedarftheit, vielleicht auch die nackte Angst um den Fortbestand des Klosters, die die Mönche daran hinderte, die Verbrechen der Vergangenheit entschiedener aufzuklären. Darüber hinaus lässt es die Klosterleitung aber auch an Konsequenz vermissen, wenn sie zwar Pater Rupert und Pater Gabriel ihrer seelsorgerischen Pflichten enthebt, als im Februar die ersten Vorwürfe gegen sie laut werden, Pater Johannes als Wirtschaftschef des Klosters jedoch in Amt und Würden bleibt, obwohl er im März selbst einräumt, brutal zugeschlagen zu haben.
Für viele Opfer ist es mittlerweile unerheblich, ob das Kloster während der vergangenen Wochen bewusst getäuscht oder nur stümperhaft gehandelt hat. »Ich will keine salbungsvolle Entschuldigung, das interessiert mich nicht«, sagt zum Beispiel Alfons Maier, »ich will Vergeltung, auch finanziell. Ich habe meinen Preis bezahlt. Jetzt ist das Kloster an der Reihe.« Mit anderen Betroffenen hat er sich zu einer Opfergemeinschaft zusammengeschlossen, deren Verhandlungen der Münchner Rechtsanwalt Stefan Lang führen wird. Lang vertrat bereits Kapitalanleger im Streit mit der Telekom und Kunden, denen Banken wertlose Immobilien angedreht hatte.
Er weiß, dass einzelne Kläger gegen solch übermächtige Gegner wenig erreichen können - eine ganze Gruppe von Klägern dagegen schon eher. Schadensersatzverhandlungen vor Gericht wird es wohl nicht geben. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt zwar noch gegen drei Patres, die meisten Straftaten am Kloster sind jedoch längst verjährt. Der moralische Druck wird das Kloster aber wohl zwingen, einem außergerichtlichen Täter-Opfer-Ausgleich zuzustimmen. Welche Summen am Ende dieser Verhandlungen auf das Kloster zukommen, ist völlig offen; für eine Oberschenkelfraktur oder ein Schädel-Hirn-Trauma gibt es in Deutschland Schmerzensgeldtabellen, nicht jedoch für die Folgen von sexuellem Missbrauch eines Kindes über Jahre hinweg.
Neben einmaligen Entschädigungsleistungen fordert Lang, der selbst in Ettal Abitur machte, einen Opferfonds für künftige Notfälle. »Wer sagt uns denn, dass ein Betroffener nicht vielleicht in fünf oder zehn Jahren eine Therapie benötigt?«
Ein Anwalt aus Nordrhein-Westfalen, der vorerst anonym bleiben will und nach eigenen Angaben 32 Opfer aus Ettal vertritt, geht einen völlig anderen Weg: »Wir sprechen überhaupt nicht mit dem Kloster. Wir warten, bis die Mönche zu uns kommen, und sie werden kommen.« Er will das Kloster bloßstellen, öffentlich, vielleicht mit einem Theaterstück auf einer Wiese vor den Toren des Klosters, in dem all die Misshandlungen nachgespielt werden. Vielleicht mit wöchentlichen Anzeigen in überregionalen Zeitungen, in denen nur zu lesen sein wird, das Kloster werde nicht davonkommen mit diesen Verbrechen. Vielleicht auch etwas ganz anderes, genug Geld für seine Aktion hat er schon beisammen, sagt er, etwa zwei Millionen von Geldgebern, deren Namen er nicht preisgeben möchte.
Der Mann lächelt. »Juristisch können wir dem Kloster nichts, ist alles verjährt. Aber wir können sie in die Enge treiben, und das werden wir. So lange, bis sie uns fragen, was sie tun sollen, damit wir aufhören.« Dann will er ihnen eine Summe nennen: eine Viertelmillion Euro, für jedes Opfer. Für die Opfer dauert der Missbrauchsskandal nun schon Jahrzehnte an, für das Kloster hat er gerade erst begonnen.
* Namen von der Redaktion geändert
Fotos: Robert Voit; dpa