SZ-Magazin: Sie erforschen die Evolution des Laufens. Interessiert Sie nur die Theorie oder joggen Sie auch selbst ab und zu?
Daniel Lieberman: Ich laufe tatsächlich 60 bis 70 Kilometer pro Woche. Und zweimal pro Jahr nehme ich an einem Marathon teil.
Was treibt Sie an?
Na ja, ich bin ein mittelalter Mann, der gegen den körperlichen Verfall ankämpft und versucht, gesund zu bleiben.
Das versuchen Millionen von Menschen. Aber die wenigsten schaffen es, sich regelmäßig aufzuraffen. Haben Sie einen Trick?
Laufen ist ein soziales Ereignis. Über Millionen Jahre ist der Mensch in Gruppen gelaufen. Ich versuche, es auch so zu halten, und bin immer mit Freunden unterwegs. Wir laufen und reden, kilometerlang. Das macht einfach Spaß – ein Aspekt, der beim Sport oft vernachlässigt wird. Die Menschen quälen sich auf Laufbändern im Fitnesscenter, manche haben Kopfhörer im Ohr, andere starren auf irgendwelche Bildschirme, jeder schwitzt allein vor sich hin. Schon klar, jede Form der Bewegung ist gesund, aber Spaß sieht für mich anders aus.
Wollen Sie behaupten, es fällt Ihnen immer leicht, vor oder nach der Arbeit die Joggingschuhe anzuziehen und loszutraben?
Natürlich nicht, wie auch: So wie der Mensch sich über die Jahrtausende und Jahrmillionen entwickelt hat, ist er nicht dafür geschaffen, sich freiwillig körperlich anzustrengen. Unsere Vorfahren sind nicht morgens aufgewacht und haben gesagt: Herrlich, jetzt erst mal zehn Kilometer laufen! Sondern? Sie mussten sich bewegen, um zu überleben. In der Zeit der Jäger und Sammler liefen die Menschen täglich bis zu 15 Kilometer. Dank ihrer Fähigkeit, lange Strecken im Dauerlauf zurückzulegen, waren sie bei der Jagd jedem Tier überlegen. Die meisten Tiere haben nicht diese Kondition; wenn sie in der heißen Steppe fünfzehn Minuten laufen müssen, brechen sie in der Regel zusammen.
Diesen evolutionären Vorteil nutzen wir heute nur selten, die meisten Menschen in der westlichen Welt sitzen tagsüber im Büro und abends vor dem Fernseher.
Wir leben in einer erstaunlichen Welt, fahren mit Aufzügen und Autos durch die Gegend und sitzen den ganzen Tag, ohne dass der Puls auch nur einmal in die Höhe geht. Aber für diese Passivität zahlen wir einen Preis. Praktisch alle Krankheiten, ob Krebs, Diabetes oder Alzheimer, hängen zumindest teilweise mit unserem Bewegungsmangel zusammen. Aus evolutionärer Sicht kann man unser Verhalten nur als abnormal bezeichnen.
44,2 Millionen Deutsche gehen nie joggen, 5,3 Millionen überwinden sich dagegen häufig, 15 Millionen zumindest ab und an.
29,2 Millionen Deutsche treiben nie Sport, 11,2 Millionen dagegen mehrmals die Woche.
3,1 Millionen spielen häufig Fußball. Das Champions- League-Finale 2013 zwischen Bayern München und Borussia Dortmund verfolgten 22,5 Millionen TV-Zuschauer.
7,9 Millionen sind Mitglied in einem Fitnessstudio (2012).
Jeder Deutsche isst im Schnitt 9,7 Kilogramm Schokolade pro Jahr.
Seit wann sind wir so faul?
Im Grunde begann die heutige Entwicklung mit der Erfindung der Landwirtschaft, vor ungefähr 600 Generationen. Lange Zeit mussten Bauern dann immer noch körperlich hart arbeiten, aber mit Beginn der industriellen Revolution wurden ihnen diese Tätigkeiten mehr und mehr abgenommen. Unser heutiger Lebenswandel dauert also gerade mal zwei oder drei Generationen an.
Aber wenn Bewegung so wichtig für unsere Gesundheit ist, warum fällt sie uns dann so schwer?
Die meiste Zeit in ihrer langen Entwicklungsgeschichte hatten die Menschen eher zu wenig zu essen als zu viel. Es gab keinerlei Grund, sich freiwillig zu bewegen, um Pfunde abzubauen.
Sie sagen, unser Bewegungsmangel sei abnormal. Wie viel Bewegung halten Sie für normal?
Dafür gibt es keine allgemeingültige Antwort. Bewegung funktioniert ja nicht wie eine Pille, deren optimale Dosierung im Beipackzettel steht. Ich würde sagen: Ein bisschen Sport ist gut, mehr ist besser und zu viel kann zu Verletzungen führen. Viele Wissenschaftler raten Erwachsenen heute, mindestens 150 Minuten pro Woche mehr oder weniger intensiv Sport zu treiben. Das entspricht fünf Tagen à 30 Minuten, in denen die Herzfrequenz um 50 Prozent steigt. Das ist nicht viel, hält aber gesund und steigert das Wohlbefinden.
Dürfen wir hoffen, dass sich unser Körper im Zuge der Evolution unserem ungesunden Lebenswandel anpasst?
Das Problem ist, dass die Menschen erst ihren Herzinfarkt bekommen, wenn sie älter sind und keine Kinder mehr bekommen können. Natürliche Auslese scheidet also aus. Selbst wenn es anders wäre: Unsere Sorge gilt den Kindern, Enkeln und Verwandten. Wir können nicht 2000 Jahre warten, bis vielleicht die Evolution das Problem gelöst hat.
Die Alternative zu Bewegung sind Diäten, die den meisten Menschen auch nicht gerade leicht fallen. Ist hierfür ebenfalls die Evolution verantwortlich?
Durchaus. Unser Körper hat sich so entwickelt, dass er rasch Fettreserven aufbauen kann. Lange Zeit war das absolut sinnvoll, weil die Menschen nicht genug zu essen hatten. Vor allem war es auch wichtig für Frauen, die ein Kind gebären. Gewicht zu verlieren und Fett abzubauen, hat die Evolution dagegen nicht vorgesehen.
Wollen Sie damit sagen: Das Los der heutigen Menschheit, zumindest in den wohlhabenden Ländern, ist die Verfettung?
Genau deshalb sollten wir ja unbedingt bei den Kindern ansetzen und dafür sorgen, dass sie sich regelmäßig und gern bewegen. Hört sich eher nach Zwang an.Und wenn schon. Wir zwingen unsere Kinder ja auch, gut zu essen und die Schule zu besuchen, weil wir das für richtig halten. Bei den Erwachsenen liegt der Fall etwas anders: Natürlich können sie tun, was sie wollen, von mir aus auch rauchen. Wobei ich schon kritisch sehe, dass letztlich wir alle für die ungesunden Lebensgewohnheiten Einzelner aufkommen müssen.
Gehören Sie zur Fraktion der Gesundheitsapostel, die am liebsten alles verbieten würden, was unvernünftig ist?
Ich bin kein Dogmatiker und will nichts verbieten. Aber Anreize zu setzen halte ich für sinnvoll. Man könnte zum Beispiel Mitgliedsbeiträge für den Sportverein oder das Fitnessstudio steuerlich fördern. Und umgekehrt höhere Steuern auf Fastfood und sonstiges ungesundes Essen erheben, dem wir ansonsten nur schwer widerstehen können. Ähnlich wie bei Zigaretten.
Ist es wirklich so gesund, den Menschen ihre kleinen Freuden zu vermiesen?
Darum geht es doch nicht. Sehen Sie, vor einiger Zeit wollte der damalige New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg Limonaden im Ein-Liter-Becher verbieten und nur noch Behälter bis zu einem halben Liter Volumen erlauben. Eine richtige Überlegung: Ein Liter Cola oder Limonade enthält Unmengen von Zucker. Aber die Leute waren empört, mehr empört zum Beispiel als über die Enthüllungen der vergangenen Monate, wonach wir alle von der NSA ausspioniert werden. Keiner soll mir sagen, was ich zu tun habe, lautete das Hauptargument.