Das Ende der Inszenierung

Warum war schon lang nichts mehr vom Jahrhundert-Regisseur Peter Zadek zu hören? Ist er krank? Müde? Oder einfach nur zufrieden? Wir haben ihn besucht und... tja.

Peter Zadek - sehr cool - in London (1969). 1933 war er als Siebenjähriger mit seiner Familie nach England emigriert.
Auftritt Journalistin und Fotografin.
Eine Sekretärin öffnet im feinen Hamburger Pöseldorf die Tür. Und schon hören wir diesen fröhlichen, gurrenden Zadek-Ton, der immer ein Fragezeichen hinter den Sätzen zu haben scheint:
Halloooo? Seid ihr da?
Ja, wir sind da.

Im Flur steht ein Luxus-Laufband, und ich stelle mir sofort den fast 83-jährigen Regisseur darauf vor – rennend. Der sitzt aber ruhig in der Küche, liest in einem Buch und entschuldigt sich, dass er nicht aufsteht. Seine Lebensgefährtin Elisabeth Plessen steht in Hut und Mantel da; die frühere Autorin hat für seine Inszenierungen sämtliche Stücke neu übersetzt. Auf dem Kalender an der Wand steht, dass sie in ein paar Tagen Geburtstag hat. Sie grüßt und ist jetzt erst mal weg.

Zwei Tage zuvor hatte ich mit Zadek telefoniert. Wann wollen Sie kommen? Übermorgen? Oder nächste Woche?
Übermorgen, sage ich.
Können Sie etwas lauter sprechen?
Übermorgen, schreie ich.
Ich versteh Sie nicht, sagt Zadek
Aber ich brüll hier schon vom obersten Rang runter, rufe ich. Und schrei noch einmal: Bis übermorgen!
Gut, gut, sagt er. Und da sitzt er nun am Küchentisch in einem knallroten Sessel. Nein, er sitzt nicht, er liegt, lagert. Das war immer seine Haltung: lässig lagernd und die Arme hinterm Kopf verschränkt. Die Lässigkeit ist verschwunden. Der Mann, der Diät halten muss, ist schmal und zerbrechlich geworden. Und die dunklen, stets sehr kurz geschnittenen Haare von einst sind nur noch heller Flaum, der ihm zu Berge steht. Aber der Kopf ist noch immer schön. Er trägt ein ausgeleiertes, schwarzes T-Shirt, das in tintenblauer, langbeiniger Skiunterwäsche steckt. Mit Eingriff. Und auf der Hose tummeln sich noch ein paar Brotkrümel. Unterm Tisch die Füße in Socken, vor ihm eine Tasse Kaffee und viele Medikamente.

Meistgelesen diese Woche:

An einer Tür steht groß in Blau: Notruf. Darunter eine sechsstellige Nummer. In der Ecke ein eleganter, alter Stuhl, daneben Tüten und Einkaufsbeutel. Doch, die Szene hat etwas Gemütliches. Und Küche war für Zadek immer ein kreativer Ort. Schon in den Sechzigern traf er sich manchmal morgens um neun Uhr mit dem Dramatiker Tankred Dorst in dessen Münchner Küche, und dann frühstückten sie, und abends um sechs frühstückten sie immer noch und redeten und planten. Er fing mit seinem Theater ja bei null an. Bei minus hundert, wie er sagte. Und revolutionierte jedes Stück.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Das Stück spielte im Puff mit halb nackten Mädels und Transvestiten, die mit Wörtern wie »ficken« um sich warfen.

Etwa zu der Zeit lernte ich Zadek in Bremen kennen. Ich war Studentin und arbeitete bei ihm in den Semesterferien. Was hab ich da gemacht?, fragt er.

Ann Jellicoes Was ist an Tolen so sexy? inszeniert, sage ich, diese Geschichte vom Potenzprotz und der Jungfrau vom Lande. Da lacht Zadek. War doch ein Riesen-erfolg, sagt er vergnügt und betrachtet während des kleinen Intermezzos seine Fingernägel. Und guten Kaffee hat er natürlich während der Arbeit von mir bekommen. Und es wurde Die Geisel von Brendan Behan wieder aufgenommen, sein Meisterwerk der frühen Jahre.

Eine Revue mit Songs und Couplets, ein Knaller, aber auch ein Schock damals für die junge Bundesrepublik, denn das Stück spielte im Puff mit halb nackten Mädels und Transvestiten, die mit Wörtern wie »ficken« um sich warfen und zur Rebellion aufriefen, zur Anarchie, zum Kampf gegen Ehre und Autorität. Es war ein Stück gegen Nazis und Faschismus, und Zadeks Credo hieß: Krieg ist Mord, und Soldaten sind Mörder.

Das Bremer Theater wurde berühmt damit. Es war damals ja erst ein paar Jahre her, dass er, der Jude, aus dem englischen Exil wieder nach Deutschland gekommen war. Sein Ensemble war jung und taufrisch: Hannelore Hoger, Friedhelm Ptok, Hans Peter Hallwachs, Judy Winter, Vadim Glowna, Bruno Ganz. Und seine Proben waren aufregend und spannend. Er sagte nie: Geh mal von A nach B und sprich dabei deinen Satz, nein, er erzählte Geschichten, sagte, was sie bei einer Szene denken könnten, sollten, und ließ sie dann machen. Auch neu texten. Assoziieren. Es war immer ein bisschen wie bei Freud auf der Couch. Nur lustiger, frecher, freier. Und es war ihm auch immer egal, ob die Leute klatschten oder buhten. Hauptsache, sie reagierten.

So. Small Talk beendet. Ich hole mein Tonbandgerät aus der Tasche.
Das Interview ist für die Süddeutsche?, fragt Zadek mit diesem spöttischen Lächeln. Und das klingt verdammt nach Szenenänderung.
Ja, fürs Magazin.
Das nützt nichts, sagt er, die müssen auch zahlen.
Wie bitte?
Sicher. Die Süddeutsche hat schlecht über mich berichtet.
Über Ihre Inszenierungen?
Nein, über die haben sie gut geschrieben. Aber es war auch Privates dabei. Hat ihn geärgert.

Aber es hat Sie doch noch nie interessiert, was man über Sie schreibt, sage ich.
Was man über meine Stücke schreibt, richtig. Also ohne Geld kein Interview.
Das wird nicht gehen, sage ich. Interviews werden nicht bezahlt.
Doch, sagt er. Rufen Sie an.
Das muss ich nicht, ich kenne die Antwort. Aber gut, wenn Sie meinen. Kurzer Anruf, klare Antwort. Also kein Geld, sage ich.
Dann gibt es auch kein Gespräch.
Wie schade, wir hätten viel Spaß gehabt.
Glaub ich auch, sagt er.

Lange Pause. Götterdämmerung. Und der alte Revoluzzer hängt nun regelrecht in seinem roten Fauteuil vor all den Medikamenten, dem stillen Wasser und dem Joghurt. Und ich stelle mir vor, wie es Anfang dieses Jahres in Zürich war, als er von einem Sofa aus liegend George Bernard Shaws Major Barbara inszenierte, diese Kapitalismus-Komödie von der Moral der Kanonen. Er hat eben noch immer den richtigen Riecher für die Zeichen der Zeit. Oder als er vor zwei Jahren mit seiner frisch gegründeten »My Way Company« noch einmal einen Shakespeare träumen wollte mit seinen Stars, die er groß gemacht hatte, und wie er mitten in den Proben ins Krankenhaus eingeliefert wurde und einen Brief verlesen ließ, worin er seine alternden Diven und Virtuosen bat, doch bitte mit seinem Coregisseur Arie Zinger weiter zu probieren.

Und wie einer nach dem anderen absprang und keine Lust mehr hatte auf sein Was ihr wollt, dieses schwermütige, melancholische Stück. Dabei ist Zadek doch längst eine Regie-Legende in Sachen Shakespeare. Und nun wollte Susanne Lothar, die einst als seine »Lulu« ihren triumphalen Durchbruch feierte, ihren Text nicht mehr lernen. Eva Mattes, die in seinem legendären Othello die Desdemona war, wollte diesen Shakespeare ja von Anfang an nicht machen. Angela Winkler, die Zadeks Hamlet sein durfte, mochte nicht ohne Suse Lothar spielen. Und Hans-Michael Rehberg, für den Zadek 1983 einen unendlich poetischen Baumeister Solness inszeniert hatte, fragte, warum sie sich jetzt um Zadek kümmern sollten, er hätte sich ja auch nie um sie gekümmert. Sie haben den alten Mann ganz einfach im Stich gelassen, und das hat ihn tief getroffen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wenn ein Deutscher imstande wäre, realisistisch über Juden zu reden und zu denken, könnte man anfangen, über Vergangenheitsbewältigung zu reden.

Nun lässt er uns im Stich. Und in die lange Pause hinein fragt die Fotografin Karin Rocholl: Welche Summe stellen Sie sich denn so vor?
Och, sagt Zadek, weiß ich nicht.
Und ist fotografieren gestattet?
Überraschenderweise sagt er ja. Aber nicht von der Seite, nicht im Profil. Natürlich nicht. Denn hinten ist diese Geschwulst, die er seit vielen Jahren schon hat, und die den Kopf immer ein bisschen nach vorne drückt. Ein Lipom. Harmlos. Wucherndes Fett. Ungefährlich. Tut auch nicht weh. Alle sagten immer: Lass es dir wegmachen. Aber er wollte nicht. Dann kommt es am Ende woanders wieder raus, dachte er. Und schreibt in seinen Erinnerungen, dass alles ja auch eine Frage des Geschmacks sei und dass Lipomträger eines Tages vielleicht mal groß in Mode kämen. Dann wäre er fein raus.

Karin Rocholl fotografiert also, und ich frage mich, welche Rolle Zadek hier spielt. Etwa den Juden Shylock aus Shakespeares Kaufmann von Venedig? Das Stück hat ihn immerhin durch sein ganzes Leben begleitet. Er war elf, als er es in London mit dem großen John Gielgud sah. Zadek selbst hat es viermal inszeniert. Das erste Mal 1961 in Ulm. Und da passierte das, was sich wohl bis heute nur Juden leisten können: Er brachte seinen Shylock als widerlichen, bösen, ekligen Geldverleiher auf die Bühne, der unmoralische Verträge abschließt, der kein Opfer mehr ist, sondern Täter, vielleicht auch Mörder, wenn’s denn nicht anders geht. So hat er ihn gesehen, weil er sich das leisten konnte und wollte. Und weil er den deutschen Philosemitismus immer unerträglich fand.

Er fand auch, dass Rainer Werner Fassbinders Die Stadt, der Müll und der Tod ein antisemitisches Stück ist. Sagte aber, man soll es aufführen. Und als er zwanzig Jahre nach seinem Shylock fand, dass das Theater mal wieder mausetot ist, inszenierte er mit Ulrich Tukur in SS-Kluft Joshua Sobols Ghetto als wilde Revue, wo vor den tödlichen Schüssen die Champagnerkorken knallen. Wenn ein Deutscher imstande wäre, so realistisch über Juden zu reden und zu denken, sagte er mir damals, dann könnte man anfangen, über Vergangenheitsbewältigung zu reden. Er wollte seinem Publikum schließlich auch mit jeder Inszenierung einhämmern, dass es nicht gefährlich ist, Fantasie zu haben.

Und nun, denke ich, lässt er seine Fantasie vor uns tanzen und spielt uns einen ganz neuen Shylock vor, einen fröhlichen Schnorrer, der aber fest auf seiner Forderung besteht: Schmerzensgeld oder Schweigen. Und im richtigen Leben ist er ja auch ein bisschen knickerig. Den Espresso zahlt die Dame selbst, sagt er schon mal zum Kellner und meint eine gute Freundin, die sich nur kurz zu einem Plausch an seinen Tisch gesetzt hat.
Werden Sie in der nächsten Zeit wieder im Hamburger St. Pauli Theater inszenieren, frage ich.
Ja, sagt er, da könne er jederzeit was machen.
Und weiß er schon, was?
Nein.
Ich hätte einen Vorschlag.
Bitte, sagt er.
Wie wär’s mit dem fünften Shylock?
Nein, nein, nein, sagt er und hebt die Hände abwehrend in die Luft. Nie mehr.

Schade, sage ich, ist ja ein aktuelles Stück um Geld, Gier und Größenwahn im Kapitalismus.Bloß weiterreden. Bloß keine größere Pause in den langsam mürbe werdenden Wörterteppich eindringen lassen. Ich hole meinen letzten Trumpf aus der Tasche. Meine Sigmund-Freud-Biografie. Freud? Aber gerne nimmt er die und blättert schon im Buch herum. Ich erzähle, wie sehr der Psychoanalytiker den Dramatiker Arthur Schnitzler beneidet hat, weil dem für die Bühne mit leichter Hand das gelang, was Freud in Schwerarbeit seinen Patienten auf der Couch entlocken musste. Zadek kennt die ganzen Stücke natürlich, und Freud hat ihn immer interessiert, und plötzlich läuft der Motor wieder rund, und wir sind mitten in der schönsten Probe fürs Gespräch. Denke ich.

Und nun?
Ich sage jetzt kein Wort mehr, sagt er. Und der Satz ist ihm nicht unangenehm. Er klingt sogar recht lustig.
Also dann gehen wir mal, sage ich.
Ja bitte, sagt er. Und fügt hinzu: Wir werden uns schon einigen.
Das glaube ich nicht. Denn das Stück, das wir hier erlebt haben, war tatsächlich so etwas wie Zadeks Götterdämmerung.

Also Abgang nach rechts durch die Tür und auf die Straße in den Regen.

Foto: dpa; Roswitha Hecke