»Am Anfang war die ganze Welt voll Lärm«

Wie Vogelgezwitscher klingt? Das weiß Fiona Bollag erst seit Kurzem, sie war fast ihr gesamtes Leben taub. Ein Gespräch über Unerhörtes.

Was für eine Person erwartet man eigentlich, wenn man gleich eine junge Frau treffen soll, die ohne Gehör zur Welt gekommen ist? Die erst seit ein paar Jahren und nach zwei Operationen wirklich weiß, wie sich das anhört, wenn Wasser plätschert, wenn eine Wanduhr tickt? Eine, die ausnehmend tiefgründig ist? Schüchtern? Still? Ein Mauerblümchen? Nein. Sie hat ja ein Buch geschrieben: »Das Mädchen, das aus der Stille kam«. Darin schildert sie, wie sie gerungen hat, um Sprache, um Anerkennung, darum, endlich an der Welt der Töne teilnehmen zu können. Doch eine Kämpferin also?

Während man überlegt, stürmt Fiona Bollag ins Zimmer. Sehr elegant, sehr hübsch, viel Goldschmuck, hohe, wirklich sehr hohe Schuhe. Keine Nervosität, dafür viel Selbstbewusstsein. Dann spricht sie – Hochsprache, überhaupt kein Dialekt. Dabei kommt sie aus der Schweiz. Interessant. Ihrer Stimme hört sich hart an, manche Worte klingen nicht ganz sauber. Ein bisschen als hätte sie beim Sprechen einen Schluck Wasser im Mund. Klar, dass sie anders redet. Jahrelang hat sie ihre eigene Stimme nicht richtig hören können. Und schon fallen einem ganz viele Fragen ein. Wann spricht man schon mal mit jemandem, für den Hören eine neue Erfahrung ist? Wann spricht man schon mal mit jemandem, der weiß, wie sich vollkommene Stille anfühlt?

SZ-Magazin: Welches ist das schönste Geräusch auf der ganzen Welt, Frau Bollag?
Fiona Bollag:
Vogelgezwitscher, das tönt so schön und klingt so friedlich. Pfeifenden Menschen höre ich auch gern zu. Wenn Menschen pfeifen, sind sie glücklich. Ich selbst kann leider nicht pfeifen. Ich könnte es lernen, aber mir fehlt die Geduld.

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Das hässlichste Geräusch? Babygeschrei. Und Baugeräusche. Wenn irgendwo gebohrt oder gehämmert wird, tun mir richtig die Ohren weh.

Haben Sie es schon mal mit Oropax versucht? Nein, Oropax brauche ich nicht. Ich habe eine viel bessere Methode gegen Lärm: die Magnet-Implantate, die mir vor ein paar Jahren eingesetzt wurden. Seitdem die in meinem Kopf sind, höre ich nicht nur deutlich besser als vorher mit dem Hörgerät, ich kann mich auch von einer Sekunde auf die andere in eine Welt der absoluten Stille versetzen – ich muss die Implantate nur ausschalten.

Tun Sie das manchmal? Ja, unter der Dusche, im Schwimmbad oder nachts, wenn ich schlafen will. Manchmal experimentiere ich auch damit herum.

Beim Küssen zum Beispiel? Nein. Beim Küssen sollte man seine Gefühle spüren, da ist es wirklich nicht entscheidend, ob man etwas hört oder nicht. Man nimmt doch auch nicht die Brille ab oder das Gebiss aus dem Mund, wenn man jemandem einen Kuss geben will, oder? Aber es gibt andere Situationen, in denen ich meine Implantate ausschalte: Zum Beispiel, wenn ich mit meinem Bruder gestritten habe und nichts mehr von ihm hören will, oder wenn ich mit vielen Leuten gemeinsam an einem Tisch sitze und dem Gespräch nicht mehr folgen kann, weil alle durcheinandersprechen. Dann schalte ich meine Implantate einfach ab und genieße die Ruhe. Manchmal wundere ich mich, wie still dann auf einmal alles ist, und versuche noch genauer hinzuhören, aber da ist nichts, absolut nichts,
nur Münder, die sich geräuschlos öffnen und wieder schließen. Vorteil: Sollte ich mal einen Mann heiraten, der nachts schnarcht, werde ich nie aufs Sofa umziehen müssen.

Nachteil: Sie hören den Wecker nicht. Muss ich auch nicht. Ich habe einen Vibrationswecker, der auf mittlerer Höhe an meinem Bettkasten klemmt. Wenn der loslegt, wackelt das ganze Bett, da wacht jeder auf. Früher, als ich noch jünger
war, kam meine Mutter jeden Morgen an mein Bett und hat mich geweckt.
Bei Ihrer Geburt waren Sie hochgradig schwerhörig, fast gehörlos. Wie und wann haben Ihre Eltern gemerkt, dass etwas mit Ihnen nicht stimmt? Angefangen hat es damit, dass ich nicht reagiert habe, wenn meine Eltern meinen Namen gerufen haben, und mich, sobald ich mal eingeschlafen war, praktisch nichts wieder aufwecken konnte: kein Telefon, kein Radio, kein Fernseher, nicht einmal der Staubsauger meiner Mutter. Meine Eltern machten sich Sorgen und brachten mich zu einem Arzt. Der machte ein paar Experimente mit einer Rassel und meinte, nachdem ich Reaktionen gezeigt hatte, dass alles in Ordnung sei. Was er nicht wusste: Ich hatte nur den Luftzug, nicht die Geräusche der Rassel wahrgenommen. Meine Eltern blieben skeptisch. Als ich elf Monate alt war, nahmen sie die Sache schließlich selbst in die Hand: Mein Vater kaufte eine Trompete in einem Antiquitätenladen, postierte sich hinter meinem Bett und blies wie ein Verrückter drauflos. Ich gab keinen Mucks von mir. Meine Eltern waren beunruhigt und bestanden auf weiteren Tests im Krankenhaus. Das Ergebnis war ein Schock: Ich konnte nicht hören.

Sie bekamen ein Hörgerät, entschieden sich aber erst mit 16 für die wesentlich wirkungsvolleren Magnet-Implantate. Gibt es Geräusche, die Sie heute anders wahrnehmen als vorher mit dem Hörgerät? Ja, Gläserklirren zum Beispiel. Das klang vorher sanft, fast angenehm, heute hört es sich laut und hoch an, voller Hall. Nicht schön. Viele Geräusche nehme ich überhaupt erst wahr, seitdem die Implantate in meinem Kopf sind: zum Beispiel das Ticken einer Uhr. Die Operationen haben mein gesamtes Hörverhalten verändert. Mit dem Hörgerät konnte ich auch hören, aber lange nicht so präzise. Der Klang war unklar, undeutlich, irgendwie fad.

Haben Sie sich vor der Operation Gedanken über die Flut von Tönen gemacht, die plötzlich auf Sie einströmen würde? Ja, manchmal hatte ich Angst, dass mich das alles überfordern könnte. Eine der entscheidenden Fragen war, ob ich in der Lage sein würde, weniger wichtige Töne von den wichtigen zu trennen: also die Musik aus dem Lautsprecher zu hören, aber nicht das Brummen der Spülmaschine. Das Autoradio, aber nicht den Motor des Autos. Mir war klar: Nach der Operation muss ich mir das Hören noch mal ganz von vorn beibringen. Mit Hilfe von Kassetten lernte ich vollkommen neue Geräusche kennen. Allein Wasser kann sich so unterschiedlich anhören: Es kann fließen, tropfen, kochen, zischen. Oder ein Hund. Der kann bellen, hecheln, winseln, knurren. Auf manche Geräusche war ich besonders neugierig, zum Beispiel auf Vogelgezwitscher.

Wie war es, als die Implantate zum ersten Mal eingeschaltet wurden? Schrecklich. Alle Geräusche drangen auf einmal auf mich ein, ich konnte das eine nicht vom anderen unterscheiden. Die ganze Welt war voller Lärm, überall klingelten Handys. Jede SMS, die ich bekam, erschreckte mich zu Tode. Ich fand alles unerträglich laut. Erst allmählich gewöhnte ich mich an den Geräuschpegel.

Sie haben ein Handy? Ja, aber ich benutze es nur selten. Telefonieren fällt mir schwer, besonders auf der Straße mit den ganzen Nebengeräuschen. Das geht eigentlich nur mit Menschen, deren Stimmen ich sehr gut kenne, also mit meinen Eltern und ein paar Freunden. Und selbst die müssen Geduld haben, weil ich oft nur einen Teil des Satzes verstehe und ständig nachfragen muss. In der Arbeit – ich mache eine Ausbildung zur kaufmännischen Angestellten – kommuniziere ich nur per E-Mail, das funktioniert einwandfrei.

Wie war es, zum ersten Mal die eigene Stimme richtig zu hören? Komisch, aber auch beeindruckend. Vorher konnte ich meine eigene Stimme zwar wahrnehmen, aber nicht kontrollieren. Ich sprach monoton, oft undeutlich, merkte es selbst aber nicht. Jetzt kann ich Zwischentöne anschlagen, kann meine Stimme so variieren, dass sie ironisch klingt oder skeptisch.

Erinnern Sie sich noch an den ersten Popsong, den Sie mithilfe der Implantate richtig genießen konnten? Oh Gott, das weiß ich nicht mehr. Ich bin kein großer Musikfan. Trotz der Implantate höre ich den Gesang auch heute noch sehr schlecht, immer übertönt die Musik die Stimmen. Das ist mir auf Dauer zu anstrengend. Ich habe keine Geduld, mir die Lieder stundenlang anzuhören, bis ich endlich verstehe, was da eigentlich gesungen wird. Trotzdem gehe ich hin und wieder auf Konzerte. Ich mag die Atmosphäre. Wenn ich abends ausgehe, tanze ich auch manchmal, am liebsten zu R&B-oder House-Musik, da sind die Stimmen nicht so wichtig, da spüre ich den Rhythmus.

Sie sind Schweizerin. Sprechen Sie Schweizerdeutsch? Nein, aber ich finde, dass es sich lustig anhört. Wenn Leute Dialekt sprechen, bekomme ich Probleme, besonders im Fernsehen. Überhaupt ist es ein großer Unterschied für mich, ob ich eine Stimme live oder im Fernsehen höre. Eigentlich bin ich immer noch auf Untertitel angewiesen, wenn ich mir einen Film anschaue. Ich kann zwar von den Lippen ablesen, aber die Person, die gerade spricht, ist ja nicht immer im Bild. Was mir aufgefallen ist: Manchmal steht da »Wie geht es dir?«, gleichzeitig höre ich aber »Hallo, wie geht es dir?« Das »Hallo« wird einfach weggelassen. Das finde ich nicht fair gegenüber uns Gehörlosen.

Gibt es andere Sinne, die wegen Ihrer Gehörlosigkeit stärker ausgeprägt sind? Ja, ich schmecke und rieche sehr gut, wahrscheinlich besser als andere Menschen. Wenn in einem Gericht auch nur ein Hauch zu viel Knoblauch ist oder der Koch Geschmacksverstärker verwendet hat, merke ich das sofort. Ich schmecke auch, ob die Tomaten in der Sauce aus dem Gewächshaus oder von einem Strauch stammen, ob für ein Curry-Gericht Bockshornklee verwendet wurde oder nicht.

Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, wie wichtig Hören ist? Sonderbarerweise sehr spät, so mit zwölf oder 13. Dass bei mir etwas anders ist, das war mir schnell klar, ich musste ja regelmäßig zu einer Therapeutin und war auf ein Hörgerät angewiesen. Trotzdem habe ich lange keinen wirklichen Mangel gespürt, weil ich ja immer im Mittelpunkt stand und alle Rücksicht auf mich genommen haben, meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde. Wie schlimm es ist, nicht alles hören zu können, bekam ich erst während der Pubertät zu spüren, da fing das Mädchengeschwätz auf einmal an, das Flüstern. Und ich konnte nichts verstehen. Es ist unglaublich, wie viel auf der Welt geflüstert wird.

Fühlten Sie sich ausgegrenzt? Ja. Als ich zwölf war, fuhr ich mit anderen Jugendlichen in ein Sommerlager. Schon im Bus wollte niemand neben mir sitzen, im Gästehaus wollte niemand neben mir liegen. Alle redeten Schweizerdeutsch und ließen mich spüren, dass ich anders war, dass es Mühe machte, sich mit mir zu unterhalten. Nachts lag ich oft stundenlang wach – ein seltsames Gefühl, zusammen mit vielen anderen Kindern in einem dunklen Raum zu liegen und nicht zu wissen, ob sie über einen tuscheln. Diese Ablehnung zu spüren tat unglaublich weh, aber ich habe gekämpft und habe es geschafft, obwohl ich oft sehr deprimiert war.

Warum haben Sie sich die Implantate nicht früher einsetzen lassen? Ich bin wohl zu stolz gewesen. Man hatte es mir schon früher angeboten, aber ich hatte abgelehnt, nachdem ich ein Mädchen gesehen hatte, der sie für die Operation den ganzen Schädel kahl rasiert hatten. Für mich war das schlimm, als Mädchen. Heute wird nur noch ein kleiner Teil abrasiert und das Gerät ist viel kleiner.

Muss man hören können, um glücklich zu sein? Ja. Nicht sehen zu können, trennt von den Dingen, nicht hören zu können, von den Menschen. Heute weiß ich: Ohne meine Implantate habe ich mich gefühlt wie ein toter Mensch, wie in einem schwarzen Loch. Schrecklich. Manchmal passiert es mir, dass die Batterien meiner Implantate leer werden und ich keine Ersatzbatterien dabeihabe, dann höre ich von einer Sekunde auf die andere nichts mehr, das ist schlimm!