Ein gutes Zeichen

Schlecht, dass es niemand mehr benutzt. Eine Ehrenrettung für den Strichpunkt.

Auf Thomas Mann ist wenigstens Verlass. Schon im zweiten Satz des Zauberbergs hat der Altmeister der Interpunktion das erste Semikolon platziert; das nächste folgt nur einen Satz später. So geht es weiter, tausend Seiten lang, bis Hans Castorp im Pulverdampf des Ersten Weltkriegs verschwindet, dabei selbstredend von zahlreichen Strichpunkten flankiert.

Könnte es sein, dass Thomas Mann den Semikolon-Gesamtspeicher im Alleingang aufgebraucht hat? Dass aufgrund der vielen Strichpunkte in Manns Werk nichts mehr übrig ist für all jene, die heute schreiben? Fest steht jedenfalls, dass das Semikolon vom Aussterben bedroht ist. Seit Jahren findet es immer seltener Eingang in Literatur, Journalismus und private Korrespondenz. Kein Sinn herrscht mehr für seine Eleganz! Kein Interesse am Rhythmus, den es jedem Satz verleiht! Auch scheint niemand mehr den jahrhundertealten Trick zu beherrschen, in öden Texten durch Einstreuen diverser Strichpunkte ein wenig literarischen Glanz zu erzeugen. Würde das Semikolon nicht als Zwinkerauge für eines der beliebtesten Internet-Emoticons gebraucht – ;-) – , wäre es wohl schon längst von unseren Tastaturen verschwunden.

Was sind die Ursachen für diese Misere? Entscheidend ist sicherlich die zunehmende Unsicherheit über die korrekte Verwendung des Semikolons. Im Duden heißt es hierzu unter Kennziffer 158: »Das Semikolon kann zwischen gleichrangigen Sätzen oder Wortgruppen stehen, wo der Punkt zu stark, das Komma zu schwach trennen würde.«

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Die Betonung liegt auf »kann«. Anders gesagt: Keine Satzkonstruktion ist denkbar, in der ein Semikolon Pflicht wäre; stets bleibt die Entscheidung dem Sprachgefühl und der Initiative des Schreibenden überlassen – der dann in der Regel das Komma vorzieht.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Französische Intellektuelle entdecken die Totengräber des Semikolons dort, wo der ganze restliche Ungeist herkommt: in den USA.)

In Frankreich, wo man seit Proust ein nahezu libidinöses Verhältnis zum »point-virgule« pflegt, werden indes noch andere Gründe diskutiert. Französische Intellektuelle entdecken die Totengräber des Semikolons dort, wo der ganze restliche Ungeist herkommt: in den USA. Die amerikanische Sprache mit ihren kurzen Hauptsätzen mache dem Semikolon den Garaus; die Popkultur mit ihrer Ästhetik der Oberfläche tue ein Übriges, um komplexe Analysen und längliche Gedankengänge, die sich nur mithilfe von Strichpunkten aufschreiben ließen, gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Zum Glück hält Michel Houellebecq als einer der letzten Virtuosen des Semikolons die Fahne hoch: »Sie trug ein kurzes, hautenges, makellos weißes Kleid«, schreibt er in Ausweitung der Kampfzone, »das der Schweiß an ihren Körper geklebt hatte; darunter trug sie, wie man sehen konnte, nichts; ihr kleiner runder Hintern war perfekt geformt; deutlich zu erkennen die braunen Höfe ihrer Brüste.«

Alles in allem erscheint der Niedergang des Semikolons somit als Symptom der Angepasstheit unserer Epoche. Von der Freizeitkultur des Denkens entwöhnt, können wir zwar noch wählen, etwa wenn wir im Elektronikmarkt einen von 35 Flachbildschirmen auswählen; aber wir haben weder den Mut noch den Instinkt, uns zu entscheiden; und sei es nur für ein Semikolon statt eines Kommas.

(Illustration: Lena Appenzeller)