Den Geist von Leon lernte ich zum ersten Mal in Österreich richtig kennen. Auf dem Balkon einer Ferienwohnung auf einem Bauernhof, wo ich mit Frau und Kind meinen Urlaub verbrachte. Wütend rauchend sah ich auf den Dauerregen. Einerseits liebte ich meine Frau und mein Kind, andererseits waren Ferien auf einem Bauernhof bei Regen in Österreich das präzise Gegenteil all dessen, was ich mir von meinem Leben erträumt hatte. Ich war zu der Zeit beruflich relativ erfolgreich und fand, dass ich etwas Besseres verdient hätte. Ich stellte mir ein Resort auf den Malediven vor, von mir aus einen hippen Surf-Spot bei Kapstadt, wo ich mit einem gekühltem Weißwein in der Hand, einer Zigarette im Mundwinkel und zwei aufgeschlossenen, aber überhaupt nicht oberflächlichen Skandinavierinnen auf dem Schoß heiter scherzend dem Abend entgegensehen würde – und meine Wut schlug in große Trauer um.
Ob ich einfach springen sollte? Genau in diesem Moment sagte jemand mit ruhiger und sonorer Stimme: »Bringt doch nichts.« Dann stellte er sich vor: »Ich bin der Geist von Leon. Schau«, sagte der Geist, »runterspringen ist keine Lösung. Du wärst ja nicht mal tot, sondern nur querschnittsgelähmt. Willst du das?« Querschnittsgelähmt auf einem Bauernhof in Österreich? Nein. »Außerdem bist du hier, weil die letzten Urlaube ein Schmarrn waren.« Ja, und was für einer. Ich erinnerte mich: Griechenland, Nebensaison, leere Strände, aber auch keine Kinder, die mit meinem hätten spielen können, darum war es zwei Wochen nölig, der Horror. »Ein richtig guter Urlaub war das, im Grunde der erste, der diese Bezeichnung verdient, seit wir ein Kind haben«, sagte ich, als wir wieder zu Hause waren. »Gut, ein Bauernhof in Österreich ist gewöhnungsbedürftig, aber ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt so gut geschlafen habe. Und wie viele Bücher ich erst gelesen habe! Überhaupt, die Reiseziele in Übersee sind völlig überschätzt, lauter oberflächliche Skandinavierinnen, wer will da schon hin, ich jedenfalls nicht mehr.«
Der Geist, der in den Alpen neben mich trat, ist so eine Art Nachlassverwalter von Leon Festinger. Festinger selbst war einer der bedeutendsten amerikanischen Sozialpsychologen und entwickelte die Theorie der »Kognitiven Dissonanz«, wörtlich »Missklang der Wahrnehmung«. Ein Missklang herrscht beispielsweise dann, wenn unser bester Freund, der genauso durchschnittlich aussieht, verdient und intelligent ist wie wir selbst, plötzlich mit einer sagenhaft schönen, steinreichen und blitzgescheiten Traumschnitte als Lebensgefährtin aufschlägt; oder wenn die Partei, die wir immer gewählt haben, in einen Spendenskandal verwickelt ist. Oder wenn wir merken, dass der Müll, den wir seit Jahren trennen, am Ende wieder zusammengekippt wird. Was wir also machen, wenn sich herausstellt, dass die Welt, so wie wir sie sehen, nicht so ist. Was ja praktisch dauernd der Fall ist. Der Konflikt, der aus diesem Missklang entsteht, löst den Wunsch aus, den Konflikt zu beseitigen. Und unsere Psyche hilft uns dabei.
Leon Festinger untersuchte dieses Phänomen in den Fünfziger- jahren, als eine junge Amerikanerin behauptete, Kontakt mit Außerirdischen zu haben, die wüssten, dass eine Flut alle Menschen auf der Erde töten würde, ausgenommen jene, die der Sekte angehörten. Natürlich blieb die große Flut aus und die Sekte hatte ein Problem – aber bloß kurz. Statt den Fehler einzugestehen, behauptete sie, nur ihre Gebete hätten geholfen, die Flut abzuwenden. Festingers vorläufiges Fazit: Menschen ändern ihre Wahrnehmung, wenn etwas eintritt, was ihrer Einstellung widerspricht.
Die empirische Psychologie hatte bis zu diesem Zeitpunkt wenig Überraschendes im Programm, vor allem dröge Statistik. Entsetzt verließen Erstsemester-Studenten in Scharen die Hörsäle. Leon Festinger holte sie zurück, und zwar mit folgendem klassischem Experiment: Er bat seine Probanden, andere Personen zu einem extrem sinnlosen Versuch zu überreden. Eine Gruppe bekam für ihre Überredungskünste einen Dollar pro Versuchsperson, die andere Gruppe zwanzig Dollar. Anschließend fragte Festinger beide Gruppen, wie sie jetzt das Experiment bewerten würden.
Prompt sagte ausgerechnet die Zwanzig-Dollar-Gruppe »saublöd«. »Wissenschaft-lich gesehen gar nicht mal so uninteressant, im Grunde sogar ganz spannend«, fand die Ein-Dollar Gruppe. Klarer Fall von kognitiver Dissonanz, folgerte Festinger: Für die Zwanzig-Dollar-Fraktion war alles im Lot – blöder Job, aber dafür gut bezahlt. Kein Grund, an der Einstellung etwas zu ändern. Anders die Ein-Dollar-Gruppe: Ich muss arglose Versuchspersonen zu einem schwachsinnigen Experiment überreden und bekomme nur einen Dollar dafür – zwei »Kognitionen«, also Wahrnehmungen, die nur schwer in Einklang zu bringen sind. Und das, so Festinger, erzeugt psychische Spannung, die als unangenehm empfunden wird, und in uns entsteht das dringende Bedürfnis, diese Spannung abzubauen. Dafür gibt es drei Möglichkeiten: sein Verhalten zu ändern – diese Möglichkeit hatten die Probanden nicht, der Versuch war ja schon gelaufen. Neue Kognitionen hinzuzufügen oder das Verhalten neu zu bewerten. Und genau das taten seine Versuchspersonen – sie fanden ihren mies bezahlten Job auf einmal ganz prima.
Nun gibt es ja im wirklichen Leben eine Menge blöder Jobs, die vorzüglich bezahlt sind und trotzdem geradezu gleißende Dissonanz erzeugen.
Stellen wir uns also eine der Stützen unserer Wirtschaft vor, einen Absolventen der Betriebswirtschaftslehre, der sich seine Sporen im Vertrieb verdiente und jetzt im Reich seiner Träume, im Marketing angelangt ist; der nur ein Problem hat: dass es sich bei dem Produkt, dem er sich mit Hingabe widmet, um Einwegwindeln für ältere Menschen handelt. Er findet seine Marke super, liebt seine Firma, aber nicht sein Produkt. Abends steht er allein am Fenster, sieht in die Dunkelheit hinaus und fragt sich, warum es für ihn nur zu Altenwindeln gereicht hat. Dann tritt der Geist von Leon an ihn heran und sagt: »Jetzt vergiss doch mal für einen Augenblick diese Windeln. Du arbeitest bei dem Unternehmen für Marken schlechthin, und gerade weil du im Bereich Altenwindeln so erfolgreich bist, kann dir in Sachen Marketing keiner was vormachen, keiner!«
Der junge Mann beginnt zu verstehen.
»Und jetzt sieh dir mal deine Umsatzzahlen und die Personalverantwortung an. Was sagst du?«
»Sagenhaft«, sagt der junge Mann und lächelt wieder.
»Und was das Beste ist«, wispert der Geist von Leon ihm ins Ohr.»Was?«, fragt der Windel-Mann.
»Ausland«, flüstert der Geist von Leon lockend, »mit deinem Profil kannst du sofort im Ausland arbeiten, und wenn du zurückkommst, stehen dir alle Türen offen.«
»Ja«, sagt der junge Mann und dreht sich glücklich lächelnd um, »dann komme ich ganz nach oben, oder?«
Ein kleiner Musik-Club, Backstage-Bereich. Lionel Richie muss gleich auf die Bühne und hat schlechte Laune: Er war es gewohnt, die ganz großen Stadien zu füllen, jetzt muss er durch Clubs tingeln, das kann er gar nicht leiden, Dissonanz pur.
»Warum so schlecht gelaunt, Alter«, fragt der Geist von Leon, »es ist ausverkauft.«
»Kein Wunder, dass ausverkauft ist, wenn nur 1500 Leute reinpassen«, sagt Lionel.
»Was willst du«, fragt der Geist von Leon, »du hast ein tolles Club-Konzert vor dir, du bist nah an den Leuten dran, deine Musiker werden es lieben.«
Nach der dritten Nummer sagt Lionel zu seinen Fans: »Do you know why I love these club concerts?«
Erwartungsvolle Stille.
»Because I am so much closer to the people I love.«
Frenetischer Beifall.
Das war schon immer so. Das Publikum hat der Bewältigung kognitiver Dissonanz damals wie heute überwiegend kritiklos zugestimmt oder hat sie zumindest ohne nennenswerten Widerspruch hingenommen. Die Versuche in früheren Schlachten, deutliche Niederlagen in Siege umzudeuten, waren ja nichts anderes als das, was Leon Festinger meinte, nur dass er zu diesem Zeitpunkt noch keinen blassen Schimmer davon hatte. In der heutigen Politik braucht es eine derart perfide Rhetorik nicht mehr. Da wird jede Art von Dissonanz pauschal abgebügelt, da wird nichts mehr bewältigt, da wird schlicht geleugnet. Prototyp dieser neuen Generation, die der Geist von Leon als »beratungsresistent« bezeichnen würde, ist Franz Müntefering, der, immer wenn eine Koalition offenkundig handlungsunfähig und kurz vor dem Scheitern ist, vor die Presse tritt und diesen unvergleichlichen Einwortsatz spricht: »Neindas ’nvöllignormalervorgang.« Ein völlig normaler Vorgang. Da wäre der Geist von Leon vielleicht gar nicht mal so anderer Meinung.
Wir leben und arbeiten heute, wo wir wollen, haben genau betrachtet viel zu viele Möglichkeiten, das heißt aber meist: Irgendwo auf dieser Welt lebt und arbeitet jemand, der besser ist als wir, und wir könnten dieser jemand sein. Ständige schwere Dissonanz, gar nicht auszuhalten. Und egal wofür wir uns entscheiden – wir hätten es besser wissen können. Der Geist von Leon meint, es habe keinen Sinn, wenn die Menschen die Dinge realistisch sehen, jedoch darüber unglücklich werden, wie zum Beispiel eher depressive Menschen. Deren Einschätzung, es bringe ja eh alles nichts, und dass alles insgesamt zum Verzweifeln sei, trifft die Wirklichkeit unseres Lebens in den allermeisten Situation ja sehr viel realistischer als die verzerrte Wahrnehmung fast aller anderen Menschen. Die finden, dass sie viel besser damit fahren, sich die Wirklichkeit schönzureden, selektiv wahrzunehmen, sich in harten Fällen auch schon mal in die eigene Tasche zu lügen, aber dabei einigermaßen glücklich und zufrieden zu sein.
Gerade komme ich mit meinem neuen MacBook Pro line mit 15-Zoll-Bildschirm für 1999 Euro nach Hause, klingle beim Nachbarn, sage, ich wollte dir nur mal kurz mein neues MacBook zeigen, da unterbricht mich der Typ und sagt, er könne gerade nicht, er müsse sein neues MacBook Pro line mit 17-Zoll-Bildschirm auspacken, habe er bei einem japanischen Internet-Versand für sagenhafte 799 Euro geschossen.
»Typischer Fall von Kaufreue«, sagt der Geist von Leon und rät: »Erst abwerten, dann abwarten.« Ich verstehe nicht.
»Der Typ steht auf größer und billiger. Willst du dich mit so einem vergleichen?«
Ich verneine und warte ab. Es klingelt, der Typ mit dem 17-Zoller steht vor der Tür. »Ich krieg die Gurke irgendwie nicht am Laufen, der will so ein Installationsprogramm, das ich nicht finden kann, kannst du mir vielleicht helfen?«
Der Geist von Leon steht – für den 17-Zoller unsichtbar – hinter der offenen Wohnungstür, nickt mir mit geschlossenen Augen wissend zu und hebt beide Daumen.
»Ich sehe nach, ob ich dir helfen kann«, sage ich, nicke dem Geist von Leon zu und hebe beide Daumen.