Her mit den Jahresrückblicken

Instagram-Sammlungen, Best-Of-Listen: Das kann man nervig finden. Oder lieben – wie unsere Autorin.

Foto: sofirinaja/Adobe Stock

In meiner Timeline hat es schon angefangen. Eine Internet-Bekannte postet einen Jahresrückblick auf Instagram: zusammengeschnittene Fotos von ihren Reisen, einem Treffen mit ihrem Opa, einem Bootsausflug und Bibliotheksbesuchen. »#BestNine 2019 so far« schrieb sie dazu. Ich schaute mir das Bildermosaik an und freute mich: Endlich ist wieder diese Zeit des Jahres.

Es beginnen die Wochen, in denen viele meiner Freunde ihre Jahresrückblicke teilen und Redaktionen ihre Best-Of-Listen als Artikel veröffentlichen. Und in diesem Jahr, große Freude, nicht nur über die vergangenen zwölf Monate, sondern auch die hochgejazzte Variante über das vergangene Jahrzehnt. Schließlich enden die 2010er-Jahre. Die Redaktion der Zeitschrift New Yorker hat schon damit angefangen und veröffentlichte Artikel über die besten Filme und die besten Alben der letzten zehn Jahre. Großartig.

Meine Liebe zu Rückblicken lässt sich einfach erklären: Ich mag es, wenn das Jahr zu Ende geht. Es fühlt sich gut an. Wie wenn eine Shampooflasche endlich ganz leer ist. Oder eine Zahnpastatube. Während des Jahres verschwimmen die Wochen in meinem Kopf zu einem Brei, der sich nicht trennen lässt. Ich kann bei den immer gleichen Aufsteh-Büro-schnell-noch-Supermarkt-dann-Kochen-Tagen und Wochenenden, an denen ich Familie oder Freunde besuche, schon kurz später nicht mehr einordnen, wann ich was gemacht habe. War ich im vergangenen Herbst bei der Freundin in Stuttgart? Oder im Februar? Im Zweifelsfall muss ich in meinen Handyfotos nachschauen.

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Dann kommen nach Weihnachten endlich ruhige Tage. Die sich so klebrig lange anfühlen wie sonst nur früher in der Kindheit. Und damit auch die Zeit, mal darüber nachzudenken, was ich in dem vergangenen Jahr erlebt habe. Es ist super, in der Gegenwart zu sein, achtsam und bla, aber wirklich schön ist es auch, sich Gedanken darüber zu machen, wie man das eigene Leben eigentlich findet. Was man erlebt hat, was man erleben möchte, und was in all diesen Erfahrungen steckt.

Ähnlich wie mit meinen privaten Erinnerungen geht es mir mit Nachrichten: Mein Goldfischkopf wüsste am Ende der Woche nicht mehr, was am Anfang der Woche passiert wäre, wenn ich nicht jedes Wochenende die Zusammenstellung der wichtigsten Nachrichten in der SZ lesen würde. Je größer die Flut an Meldungen und Aktualisierungen wird, desto dankbar bin ich für Überblicke. Und wenn dann gleich das ganze Jahr zusammengefasst wird: vielen Dank.

Das Gleiche gilt für Bücher, Filme und Serien. Auf Instagram, Twitter, in der Kantine und mit FreundInnen im Restaurant bekomme ich so oft zugerufen, was ich mir unbedingt anschauen muss (was ich meistens aus diesem Grund nicht tun werde) und welche Bücher mir so gut gefallen könnten, dass ich das Gefühl habe, nie hinterherzukommen. Der endlose Strom an Empfehlungen überfordert mich. Wenn dann jemand – und ein New-Yorker-Kritiker ist noch viel mehr als irgendein jemand – für mich eine Auswahl trifft, was ich mir wirklich anschauen sollte, kann ich mich nur bedanken.

Ich mag selbst die privaten Rückblicke gerne – zum Beispiel mit Fotos auf Instagram oder den Songs, die sich meine Bekannten auf Spotify am häufigsten angehört haben. Sie sind das Äquivalent zu den Tagen nach Weihnachten: Menschen überlegen mal, was in dem Jahr eigentlich so passiert ist in ihrem Leben.

Klar kann man sich über diese Form der Selbstdarstellung lustig machen. Als in den vergangenen Wochen viele die Ergebnisse ihrer Spotify-Rückblicke posteten und dazu schrieben, wie gut Spotify sie doch kenne und wisse, welche Musiker sie besonders mögen, twitterte jemand: »I saw a girl post her Spotify top artists on her Instagram story with the caption ›so accurate‹. Like yeah it’s accurate... it’s literally data.« Und der immer lustige »Dude with sign« hielt ein Schild hoch, auf dem Stand: »Nobody cares about your spotify.«

Aber mal ehrlich: Jeder, der in den sozialen Netzwerken dabei ist, ist auch ein bisschen Selbstdarsteller. Oder schaut zumindest anderen Leuten gerne dabei zu. Wenn Leute etwas anderes behaupten, wirkt das auf mich wie künstliche Distinktion. Da ist mir ein Post mit der Botschaft »Das habe ich gemacht und schaut es euch bitte noch mal an« deutlich lieber, als wenn Leute so tun, als wären sie weder von Likes abhängig noch Voyeuristen.

Und wenn das auf jemanden nicht zutrifft, kann ich nur empfehlen: Hört euch die besten Alben der letzten zehn Jahre an. Und lasst den anderen die Freude am kollektiven Rückblick.