Penisse waren Rose Franko ihr ganzes Leben lang egal. Seltsame Organe zwischen Männerbeinen waren das für sie, mehr nicht. Die Amerikanerin ist lesbisch, seit sie denken kann. Noch nie hatte sie einen Mann – nicht zum Leben, nicht zum Lieben, und schon gar nicht zum Sex. Und nun, mit Mitte siebzig, sitzt sie plötzlich in einer Stadtwohnung in Belgrad, krallt ihre rosarot lackierten Fingernägel nervös in die Lehnen ihres Sessels, und kann an nichts anderes denken als einen Penis. Er gehört der Liebe ihres Lebens. Aber erst seit einigen Tagen.
»Sie hat gesagt, dass sie als Mann beerdigt werden will«, erzählt Rose. »Falls irgendetwas schiefgehen sollte.« Im Badezimmer der muffigen Wohnung steht Arleen, die Frau, mit der sie seit dreißig Jahren zusammen ist. Das heißt, eigentlich steht dort Arlen, der Mann, mit dem sie für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben will.
Hinter der verschlossenen Badezimmertür überprüft ein serbischer Arzt die Wunden Arlens. Das Paar hat vor einigen Tagen die Reise von Florida nach Belgrad angetreten, 9000 Kilometer weit, damit sich Arleen endlich der riskanten Operation unterziehen kann, von der sie so lang träumt. In den USA hat sie bereits ihre Brüste verkleinern lassen, die inneren weiblichen Organe entfernen, sich Hormone verschreiben lassen. Es fehlte nur noch dieses letzte, kleine Stück Männlichkeit untenrum. Den Traum hat sich Arleen in Belgrad erfüllt. Nun nennt er sich Arlen Jay, kurz: AJ.
Rose kümmert sich schon seit einigen Tagen fürsorglich um ihren Freund und sein neues Organ: waschen, desinfizieren, Katheter wechseln. Wie sich das für sie anfühlt, wo sie sich doch nie für Penisse interessiert hat? Für sie als gelernte Krankenschwester sei das Routine, sagt sie. Und mehr will sie zu dem neuen Ding an ihrem Liebsten auch nicht sagen. Was zähle, sei der Mensch drumherum.
Als sich die Badezimmertür öffnet, hört man bereits AJs raues Lachen. Das Testosteron hat seine Stimme verändert. Sein Gesicht ist jetzt viel kantiger als früher, ihm wachsen dichte Haare auf der Brust, er trägt einen grauen Bart. Seine kräftigeren Hände schiebt er mit lässiger Geste in die Taschen der hellen Herrenhose und sieht lachend in den Spiegel über dem Waschbecken. Er mag, was er sieht. Und Rose? Kann sie nun einen Mann lieben, wo sie sich doch nur für Frauen interessiert?
Rose antwortet nicht, sondern legt den Kopf an die Brust ihres Lebensgefährten und lächelt. Seine Brusthaare kitzeln ihre Wange. Sie seufzt. »Ich mag das Gefühl«, sagt sie. Arlen grinst und erzählt, dass er am Anfang Angst hatte, sie ihr zu zeigen.
Doch Rose hat bemerkt, dass sie vieles mag an Männerkörpern. »Einen schönen Mann gucke ich mir lieber an als eine hässliche Frau«, sagt sie. Im gemeinsamen Apartment am Strand von Florida verbringen die beiden fast jeden Tag am Pool. Es ist eine körperliche Gesellschaft, in der man auf Schönheit bedacht ist. Arlen, der sich jahrzehntelang als Mann in einem falschen Körper fühlte, machte jede Alterungserscheinung zu schaffen. »Alles hängt und ist verrunzelt, ich konnte mich gar nicht mehr selbst angucken«, sagt er. Heute sieht er für sein Alter sehr muskulös aus. Man sieht ihm sein Training an.
Im Schlafzimmer der Belgrader Wohnung stehen die Reisekoffer der beiden. Zwei Überseekoffer für Rose, zwei kleine Trollys für Arlen. Sie wollen sich umziehen für ein Essen mit den serbischen Ärzten, um die gelungene Operation zu feiern. Rose zieht drei Jacken aus dem Klamottenstapel und steht unschlüssig davor. Arlen sieht ihr zu. »Sie nimmt immer zu viel mit«, stichelt er, ganz wie ein Klischee-Ehemann, ein Klischee-Hetero-Ehemann, »und dann kauft sie sich trotzdem noch was Neues nach.« Rose spielt kurz die empörte Hetero-Ehefrau, dann gehen die beiden Arm in Arm auf die Straßen Belgrads.
Obwohl Geschlechtsumwandlungen in Belgrad vergleichsweise günstig sind und viele Europäer und Amerikaner den Eingriff hier vornehmen lassen, sind Homo- und Transsexualität in Serbien heute noch ein Tabu. Auf den Straßen von Belgrad gibt es keine sich küssenden lesbischen Paare, die Bars für Homosexuelle sind in keiner Karte eingezeichnet, und die Schwulenparade endete 2010 nach einem Überfall durch Hooligans mit vielen Verletzten. Seitdem ist die Parade verboten. Unvorstellbar für zwei Lesben, Hand in Hand durch die Straßen zu gehen. »Aber jetzt ist das ja kein Problem mehr«, sagt Rose und hakt sich damenhaft unter. »Wir sind jetzt normal.«
So normal, dass sie nun in den Lesbenbars in den USA schief angeschaut werden. Man dreht sich um nach ihnen und die Frage steht im Raum: Was habt ihr hier zu suchen? Einmal musste AJ sogar seinen Ausweis herausziehen, um einer lesbischen Stammtischrunde zu beweisen, dass er als Frau geboren wurde.
Rose mag das. Ihr war das Etikett »Lesbe« immer schon zuwider. Wenn sie das Wort sagt, macht sie eine Handbewegung, als wolle sie es vertreiben wie eine Stubenfliege. »Ich mag den Ausdruck nicht und ich mag diese ganze Welt nicht«, sagt sie.
Rose hat als 18-jährige Puerto Ricanerin bei der Navy angeheuert, erst bei der Armee hat sie Englisch gelernt, und sich dann zum Offizier hochgearbeitet. Sie hat Truppen in Lateinamerika befehligt und schließlich ist sie sogar im Pentagon gelandet. Dass sie Frauen liebt, hat sie jahrzehntelang verheimlicht. »Ich wäre unehrenhaft entlassen worden«, erzählt sie. »Einmal Marine, immer Marine.« Zu Hause in ihrer Wohnung hat sie eine ganze Wand voller Fotos. Sie zeigen eine stolze junge Frau in weißer Garde-Uniform mit Orden am Revers, in Grün mit einem Sportlerpokal in der Hand oder in Blau mit weißen Handschuhen und Hut.
Als Rose nach 23 Jahren bei der Marine in Rente geht, kehrt sie zurück in ihre Heimat Puerto Rico. Und sie trifft dort Arleen, die sie schon aus frühester Kindheit kennt: Arleen und Rose sind Cousinen. »Meine damalige Partnerin war auch mit AJ befreundet. Wir haben uns oft gesehen«, erzählt Rose. In den Achtzigerjahren stirbt ihre langjährige Partnerin überraschend an einem Herzinfarkt. »Und dann war AJ einfach da«, sagt sie. Arleen hilft ihr mit der Beerdigung und mit ihrer Trauer. Irgendwann verlieben sich die beiden. »Es war an einem Abend, als ich mich verabschieden wollte«, sagt AJ. »Statt ihr wie sonst einen Abschiedskuss auf die Wange zu geben, bin ich abgerutscht und auf ihren Lippen gelandet. Ich wollte mich entschuldigen und war ganz verlegen, aber Rose sagte nur: ›Das ist völlig okay!‹« Von da an gab es so lange weiter Abschiedsküsse, bis es keine Abschiede mehr gab.
Zwei Monate später standen die beiden in weißen Hosenanzügen in einer Gay Church in New York und ließen sich zu Frau und Frau erklären. Damals war das noch nicht offiziell erlaubt, weswegen die Ehe ungültig war. Aber das machte nichts – AJ verstand sich selbst ja sowieso nie als homosexuell, sondern als Mann in einem Frauenkörper. Vor einem Jahr haben die beiden noch einmal geheiratet, diesmal als Mann und Frau.
Im Restaurant in Belgrads Villenviertel hilft Arlen seiner Frau aus dem Mantel – und ist dann plötzlich verschwunden. Rose sieht sich verunsichert um. Er steht nicht bei den Ärzten aus der Privatklinik und auch nicht am Tresen bei den Kellnern. Sie sucht ihn, geht zur Toilette, aber niemand ist dort.
Als Arlen endlich auftaucht, fragt sie ihn: »Wo warst du denn, um Himmels willen?«
»Mir die Hände waschen«, antwortet AJ.
»Aber da war ich doch gucken.«
»Auf dem Herrenklo?«
Es ist schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass der Partner plötzlich die Männertoilette aufsucht – nach so vielen Jahren.
Die beiden brechen in schallendes Gelächter aus.
»Sie ist das Beste, dass mir je passiert ist«, sagt Rose.
»Er ist das Beste«, korrigiert AJ. »Er!«
Foto: Kathrin Harms