Die liebe Freiheit

Die Lebensgeschichte von Yassin al-Haj Saleh, einem der wichtigsten Schriftsteller Syriens, erzählt viel über die andauernde Tragödie in seiner Heimat. In Deutschland kennt ihn kaum ­jemand – dabei lebt er hier.

Yassin al-Haj Saleh im Berliner Wedding, wo er derzeit wohnt.

Foto: Urban Zintel

Dieses Jahr wäre Yassin al-Haj Saleh dann doch fast gestorben, in Paris. Er war eingeladen, auf einem Podium zu diskutieren anlässlich des zehnten Jahrestages des andauernden ­syrischen Bürgerkrieges und zu lesen aus seinen Büchern, in denen er erklärt, warum in seiner Heimat viel mehr tobt als bloß ein Bürgerkrieg.

In Berlin, wo er Stipendiat der Schriftstellervereinigung PEN ist, hatte al-Haj Saleh im März vor seiner Abreise nach Frankreich noch erzählt, er lebe mindestens sein drittes Leben. Er hat 16 Jahre Ungewissheit und Folter in Syriens schlimmsten Gefängnissen überstanden, später die Flucht vor Assads Bomben und den Schergen des »Islamischen Staats«, den er »Daesh« nennt. Aber diesem Virus nun entkam er, mittlerweile 60, nicht.

Am Morgen vor dem Rückflug aus Paris erhielt al-Haj Saleh ein positives Corona-­Testergebnis. Er blieb allein in der Wohnung eines Freundes. Und wurde sehr krank. Das Atmen fiel ihm schwer, er hatte ungeahnte Schmerzen, rief aber nicht um Hilfe, lag einfach da. Drei Tage lang. Bis der Freund sich sorgte, weil al-Haj Saleh nicht ans Telefon ging. Auf der Intensivstation wurde im Blut ein Sauerstoffgehalt von nur 86 Prozent festgestellt. Es war sehr knapp, so erzählt es al-Haj Saleh. Über die Schläuche hinweg habe der Arzt gefragt: Wie haben Sie das ausgehalten? Warum kommen Sie erst jetzt?

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Einige Wochen danach, es ist Juni, sitzt Yassin al-Haj Saleh um die Ecke seiner Stipendiatenwohnung im Wedding vor einem Bier und einer Schale Sonnenblumenkerne. Ein in diesem Achtzigerjahrefassadenberlin und Callshopkiez auffallend freundlicher und gepflegter Herr, der dem Treiben um sich ein wenig spöttisch und sehr großzügig nachlächelt und sich über die Unpünktlichkeit seines deutschen Gesprächspartners amüsiert. Wie so oft scheint er die Worte in seinem Mund geduldig aus den Gedanken zu häuten wie die Sonnenblumenkerne aus ihrer Schale, dann sagt er leise, aber bestimmt, auf Englisch: »Ich habe die Schmerzen in Paris erduldet, weil ich tief in mir die Sehnsucht habe, mich selbst zu bestrafen.«

Im Angesicht des Todes sei ihm wieder bewusst geworden, dass er es nicht schaffe, sich selbst davon zu überzeugen, dass es nur aus heutiger Sicht ein Fehler war, Samira zurückzulassen in Duma nahe Damaskus, im Sommer vor acht Jahren. Davon, dass sie keine Wahl hatten und es nicht wissen konnten. Al-Haj Saleh wollte damals in Richtung Norden, zur Familie nach Rakka, der Stadt, aus der er stammt, gerade von den Rebellen eingenommen, und dort helfen, etwas aufzubauen. Künstler sammelten sich, eine neue Zeitung wurde herausgegeben. Doch der einzige Weg aus Duma, von der radikalsalafistischen Miliz Dschaisch al-Islam kontrolliert und von Regierungstruppen belagert, insgesamt gut 400 Kilometer, viele zu Fuß, wäre – sagten alle – zu gefährlich für seine Frau, die Menschenrechtsaktivistin Samira Khalil. Außerdem tat sie in Duma oder jener Ansammlung aus Schutt und Erinnerungen, die davon übrig und für mehr als 100 000 Einwohner ein Zuhause gewesen war, wichtige Arbeit für das Violations Documentation Center in Syria (VDC), mit dem sie später etwa versuchte, den Angriff mit dem Nervengas Sarin durch die syrische Luft­waffe im August 2013 aufzuklären, bei dem nach US-Angaben 1400 Menschen gestorben sein sollen. Khalil dokumentierte aber auch die Übergriffe durch Oppositionelle. Sie würde al-Haj folgen, sobald es sicherer war, verabredeten sie.

Auf Skype besprachen Samira und er, wie auch ihre Ausreise möglich wäre. Die Gespräche wurden wackliger. In Duma gab es kaum noch Strom

Nach 19 Tagen kam Yassin al-Haj Saleh in Rakka an, aber in der Zwischenzeit waren seine beiden Brüder, die dort lebten, vom IS verschleppt worden. Al-Haj Saleh versteckte sich bei seiner Schwägerin und ihrem kleinen Sohn. Nach zwei Monaten schaffte er es, in die Türkei zu fliehen, nach Istanbul. Auf Skype besprachen Samira und er, wie auch ihre Ausreise möglich wäre, die Lage änderte sich stündlich. Die Gespräche wurden wackliger. In Duma gab es kaum noch Strom. Seine große Liebe erschien nur noch unscharf auf dem Bildschirm, als würden sie sich immer weiter voneinander entfernen.

Am 9. Dezember 2013 wurde Samira Khalil, die trotz Drohungen nach wie vor nicht ihr Haar bedeckte, wenn sie auf die Straße ging, gemeinsam mit der prominenten Aktivistin Razan Zaitouneh und ihren Kollegen Nazem Hamadi und Wa’el Hamada von bewaffneten Männern des Dschaisch al-Islam aus dem Büro ihrer NGO entführt. Seitdem ist sie spurlos verschwunden. Und der Autor Yassin al-Haj Saleh, den manche ­»Syriens Stimme des Gewissens« nennen und andere den »Doktor der Revolution«, fühlt neben der Trauer diese extreme Schuld, für die er glaubt, büßen zu müssen – was eine weitere Ungerechtigkeit ist in seiner an Ungerechtigkeiten reichen Geschichte.

Geboren wurde Yassin al-Haj Saleh 1961 in einem Dorf bei Rakka, unweit der Grenze zur Türkei, das vierte von neun Kindern, der Vater Bauer, die Mutter sein Alles. Im Dorf, sagt er, waren alle miteinander verwandt. Sie hatten Schafe, Hühner, Hunde, einen Esel – und eines Tages sogar eine Schule, der ­nun regierenden arabischen sozialistischen Baath-Partei sei Dank. Al-Haj Saleh war ein noch besserer Schüler als sein ältes­ter Bruder. Als er elf Jahre alt wurde, zog er mit diesem, gerade 16, und dem Zweitältes­ten, 14, in die Stadt, Rakka hatte Hunderttausende Einwohner, in ein kleines Zimmer, das der Vater mietete, damit sie alle eine weiterführende Schule besuchen konnten.

Al-Haj Saleh beschreibt dieses Ereignis als Trauma, er war noch ein Kind und zum ers­ten Mal und für immer ohne die Mutter. Er begann, viele Bücher zu lesen. Die Verwandlung von Kafka wurde ihm das wichtigste. Nicht nur, dass er selbst jeden Morgen erwachte im Gefühl, ein anderer zu sein als der Junge, der er gerade gewesen war, auch das Land veränderte sich: 1970 putschte sich Hafiz al-Assad, der Generalsekretär der Baath-Partei, aus der religiösen Minderheit der Alawiten, zum Ministerpräsidenten und begann mit Unterstützung von Militär und Geheimdienst, Syrien zu einer linksnationalistischen Diktatur zu formen, die sich an der Sowjetunion orientierte. 1971 wurde al-Assad Staatspräsident, was er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 blieb, ihm folgte sein zweit­ältester Sohn: Baschar al-Assad.

Wann er politisch wurde, weiß Yassin al-Haj Saleh nicht mehr. Er fragt sich heute, ob er überhaupt politisch gewesen war, ehe er zum politischen Gefangenen wurde. Jedenfalls trat er, als er nach Aleppo ging, um ­Medizin zu studieren wie der älteste Bruder, einer von damals zwei kommunistischen Parteien Syriens bei. Jener, die Moskau kritisch gegenüberstand. Die Ziele: Demokratie, echter Sozialismus, Einigkeit der arabischen Staaten. Vor allem aber, sagt er, gab ihm der Marxismus das Gefühl, zu den Guten zu gehören und dass es für sein Land eine Zukunft gibt jenseits der allgegenwärtigen Propaganda der Familie al-Assad. Bei den Treffen seiner Parteigruppe kamen Muslime zusammen mit Säkularen, Sunniten mit Schiiten. An einem dieser Abende, am ­­7. Dezember 1980 um ein Uhr nachts, geschah das, was ­Yassin al-Haj Saleh als »die Festnahme« bezeichnet, die Polizei holte ihn und einige Genossen. Aber es war eher eine Entführung: Al-Haj Saleh saß von da an für 16 Jahre und 14 Tage in Haft. Er war 19, als er ins Gefängnis kam, und 35, als er es 1996 verließ. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer verbotenen Ver­einigung. Vor Gericht stand Yassin al-Haj Saleh erst nach zwölf Jahren, einen Anwalt sah er nie. Nach ihm kamen auch seine Brüder in Haft, für fünf und sechs Jahre. Die Mutter, krank vor Kummer, starb, während die Söhne weggesperrt waren.

Das Schlimmste, sagt al-Haj Saleh, ­waren nicht die Demütigungen, die Schlä­ge, die Beschimpfungen. Sondern die Zeit. Sie war der Feind. Die Folter. Man hielt sein Leben einfach an. Nach anderthalb Jahren waren wenigs­tens Bücher erlaubt. Er lernte Englisch. Las Noam Chomsky. Hannah Arendt. Anna Seghers. Nach acht Jahren traten die Gefangenen in einen Hungerstreik, um auch Stifte zu bekommen. Er schrieb Briefe und kleine Notizen, aber wenn man drinsteckt, sagt er, kann man noch nicht drauf­schauen. Mit der Zeit, sagt al-Haj Saleh, wurde die Zeit sein Freund. Er spürte, dass er sich entwickelte, obwohl er nicht vom Fleck kam. Eine innere Reise, wie er sie nur aus dem Koran kannte, der ihm immer fremd geblieben war. »Es war eine Emanzipation von allen Umständen, die mich umgaben«, sagt er. »Ich wurde frei von den Herausforderungen der Freiheit da draußen.« 1992, vor Gericht, bot man ihm einen Handel an: Würde er mit dem Regime kooperieren, käme er frei. »Freiheit gab es nur auf Kosten der Würde«, sagt al-Haj Saleh. Also blieb er gefangen und doch frei, wie er fand. Er wurde in das für Folter und Mord berüchtigte Tadmur-Gefängnis in der Wüste bei Palmyra verlegt. Alle anderen, die mit ihm 1980 inhaftiert worden waren, ließen sich auf das Angebot des Regimes ein, erfuhr er. Al-Haj Saleh war allein unter 300 Ge­fangenen, die in Tadmur in die 90-Quadrat­meter-Zellen gepfercht wurden.

Der Himmel über Rakka, ­Yassin al-Haj Salehs Heimatstadt, im März 2021.

Foto: Delil Souleiman/AFP

KRIEG IN SYRIEN: ZEHN JAHRE UND KEIN ENDE

2011:
Am 18. März erschießen syrische Sicherheitskräfte in Daraa vier Demonstranten, es gibt landesweite Proteste.
2012: Baschar al-Assad lässt von Rebellen besetzte Städte bombardieren. US-Präsident Barack Obama warnt vor dem Einsatz chemischer Waffen: Das sei die »rote Linie«.
2013: Die syrische Opposition wirft dem Regime vor, bei Nervengas-Angriffen auf Ghuta mehr als tausend Menschen getötet zu haben. Russland und die USA streiten seither darüber, ob Assad Chemiewaffen einsetzt.
2014: ISIS, eine Al-Qaida-Splittergruppe, erobert Rakka und ruft unter dem Namen »Islamischer Staat« ein Kalifat aus. Die USA beginnen mit Luftschlägen.
2015: Auch Russland greift in den Krieg ein, auf Seiten Assads, und bewahrt den Diktator vor der fast sicheren Niederlage.
2016: Die Türkei ­errichtet eine Kontrollzone in Nordsyrien, um kurdische Kräfte zurückzudrängen. Die syrische Armee erobert Aleppo von Rebellen zurück.
2017: Israel räumt Luftangriffe gegen die von Iran unterstützte Hisbollah in Syrien ein. Von den USA unterstützte kurdisch geführte Einheiten (SDF) vertreiben den IS aus Rakka.
2018: Die Türkei und Russland einigen sich auf eine demilitarisierte Zone in der Region Idlib.
2019: Der IS verliert fast sein gesamtes Territorium in Syrien, US-Präsident Donald Trump lässt fast alle Truppen abziehen.
2020: Die russisch-syrische Offen­sive im Nordwesten macht etwa eine Million Zivilisten obdachlos.
2021: Im Mai gratuliert der russische Präsident Wladimir Putin Baschar al-Assad zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen.

Zehn Bücher hat Yassin al-Haj Saleh geschrieben, jedes ebenso politisch wie persönlich, erst ein Essay wurde auf Deutsch übersetzt: Freiheit: Heimat, Gefängnis, Exil und die Welt (Verlag Matthes & Seitz, ­Berlin 2020), eine be­eindruckende und ­bedrückende Meditation über die Freiheit, ­­in der al-Haj Saleh auch die Überforderung schildert, als er sie eines ­Tages zurückerhielt, Ende 1996. Er irrte in Reisebussen durch ein Land, das er sich so lange vor­gestellt hatte, und fand das alte Haus der ­Familie zunächst nicht mehr, nach dem er sich so oft gesehnt hatte.

In Aleppo schloss Yassin al-Haj Saleh sein Medizinstudium ab, obwohl er wusste, dass er nie Arzt sein wollte. Er sezierte in der Universität fremde Körper, hatte aber erkannt, dass es sein eigenes Innerstes war, an dem er forschen wollte. Dieser Ort, an den er sich hinter Gittern hatte zurückziehen können, blieb auch in der Überforderung und Fülle der offenen Welt sein Schutz. Und das Aufschreiben seiner Gedanken gab ihm die Sicherheit, die er vermisste, so widersinnig es klingt, nun, da er die Gefängnismauern nicht mehr um sich hatte. »Das Gefängnis hat mich zum Schriftsteller gemacht«, sagt al-Haj Saleh. Zunächst verdingte er sich als Übersetzer, sein erster Auftrag: ein Buch von Noam Chomsky. Ab dem Jahr 2000, mit fast 40, veröffentlichte er seine ersten Texte, in verschiedenen Zeitungen und Magazinen, politische Analysen über die syrische Gesellschaft und die arabischen Staaten. Und doch, sagt Yassin al-Haj Saleh, hätte er seinen Platz nie gefunden ohne Samira. Sie begegneten sich 1999 bei einem Essen von ehemaligen politischen Gefangenen. Auch Samira Khalil, eine Alevitin aus Homs, saß wegen Mitgliedschaft in einer Kommunis­tischen Partei im Gefängnis, von 1987 bis 1991. Sie wussten beide, wovon sie sprachen. Samira, sagt al-Haj Saleh, hatte außerdem wie er acht Geschwister. Und doch war sie vor allem anders. So direkt. Ihr Lachen füllte die Straßen. Ihr Mut jeden Raum. Nach ihrer Entlassung aus der Haft hatte sie in Damaskus einen Verlag geleitet. Es interessierte sie nicht, dass man tuschelte, weil sie allein lebte. Yassin al-Haj Saleh hatte gehofft, dass er die Liebe kennen­lernen würde, obwohl er ein Mann ohne Jugend war. Aber damit hatte er nicht gerechnet.

Am 5. September 2002 heirateten sie, in ihrem liebsten Res­taurant. Sie fanden eine 35-Quadratmeter-Wohnung in einem Vorort von Damaskus. Es begann das zweite und kurze Leben des Yassin al-Haj Saleh. Ein sehr gutes, sagt er. Natürlich: Noch immer lebte er in einem Gefängnis, jetzt in einem namens Syrien. Einen Reisepass erhielt er nie. Aber ihm reichte sein Schreibtisch, um auf Erkundung zu gehen. Jede Woche verfasste er seine Kolumne für die in London erscheinende Zeitung Al-Hayat. Er wusste, dass er nicht alles schreiben konnte, und doch schrieb er alles, forderte Reformen, Gerechtigkeit und das Ende der Korruption, ja: die freie Republik Syrien – aber er tat das, indem er von sich erzählte und seinem Alltag, vom Kleinen über das Große, aus der Zelle in die Welt. Es gibt das Schreiben über Politik, sagt al-Haj Saleh, und die Politik des Schreibens. Ein Freund scherzte, die Zensoren Assads ­verstünden seinen literarischen Stil einfach nicht. Und doch bestellten sie ihn regelmäßig ein. Al-Haj Saleh bekam mitunter das Gefühl, sie täten das bloß, um ihre Schnüfflerposten zu recht­fertigen, irgendwas mussten sie ihren Vorgesetzten ja nach­weisen. Sie ließen ihn stets gehen. Er war immun, sagt al-Haj Saleh. Wie sollten sie ihn noch brechen?

Bald war er einer der bekanntesten Kommentatoren Syriens. Er verdiente gutes Geld. Und wichtiger: Samira und er fanden viele Freunde, vor allem junge, von der Universität, die sich bei ihnen im Wohnzimmer versammelten, um zu debattieren. Sie fühlten sich nicht mehr kinderlos. Fühlten sie sich frei? Vielleicht. Zusammen waren sie weiter gekommen als gedacht, jeder neue Morgen mit Samira war eine Revolution.

»Wie im Gefängnis zerbricht auch im Exil unsere Zeitordnung«, schreibt Yassin al-Haj Saleh in seinem Buch Freiheit.

In seiner Küche lehnt ein Plakat von einer der Mahnwachen für seine verschwundene Ehefrau Samira Khalil.

Fotos: Urban Zintel

So war es für den Vordenker Yassin al-Haj Saleh fast ein Schock, als Ende 2010 der Arabische Frühling anbrach. Die Massendemonstrationen in Tunesien und Ägypten. Die Absetzungen der Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali und Husni Mubarak, nach wenigen Wochen. Dann die ersten Proteste in syrischen Städten. Auch al-Haj Saleh reihte sich ein, aber seine Freunde rieten ihm davon ab. So immun ist niemand. Wenn Baschar al-Assad eines nicht gebrauchen konnte, dann eine Symbolfigur gegen ihn. Also blieb al-Haj Saleh zu Hause. Er glaubte zunächst, der Machtwechsel würde so lange dauern wie eine Schwangerschaft. In neun Monaten wäre das Land reif. Aber er sah, wie die ­Armee gegen die Demonstranten vorging. Hörte von den Toten. Von der Freien Syrischen Armee, die sich formierte. Und entschied, dass er rausmusste. Darauf hatte er sein Leben lang gewartet. Dafür hatte er sein Leben lang gesessen.

In den Untergrund zu gehen bedeutete für Yassin al-Haj Saleh, dass er in die Wohnung eines Freundes zog, von der nur dieser und Samira wussten, so begann sein drittes Leben. Der Zusammenhalt in dieser Zeit, sagt al-Haj Saleh, war einmalig. Darüber schrieb er nun sogar für die New York Times. Es gab nichts mehr zu verlieren. Als der Mann ihrer Nichte verhaftet und nach ihr befragt wurde, musste sich auch Samira Khalil verstecken. Sie flüchteten nach Duma, wo viele versuchten, inmitten des Chaos Ordnung zu schaffen. Diese Menschen waren durch Islamisten befreit worden. Den Fehler in diesem Satz, sagt Yassin al-Haj Saleh, erkennt jeder.

Die beängstigende Normalität, in der Yassin al-Haj Saleh und Samira Khalil in Duma lebten, lässt sich im Dokumentarfilm Our Terrible Country nachvollziehen, der 2014 erschien. Die jungen Filmemacher Ziad Homsi und Mohammad Ali Atassie begleiteten al-Haj Saleh 2013 auch auf dessen quälend langem Weg nach Rakka, in eine vermeintliche Zukunft, mit einer Gruppe von Intellektuel­len und Deserteuren. Al-Haj Saleh ist zermürbt von der Hitze und dem Trennungsschmerz, und doch scheint er unerschrocken und euphorisch. Was Our Terrible Country so deprimierend macht, ist, dass Ziad Homsi mit seiner Kamera den Moment der Ernüchterung einfängt. Unterwegs erfährt Yassin al-Haj Saleh vom Verschwinden des Bruders. Und in Rakka stößt er auf eine bizarre Szenerie, in der Streetart-Aktivisten Wände gestalten, während neben ihnen Gotteskrieger mit Maschinen­gewehren Passanten maß­regeln. Das Böse sei ganz langsam durch die Stadt gesickert, sagt Yassin al-Haj Saleh. Aber er brauchte nicht lange, um zu verstehen, dass hier nicht nur der Kampf der Menschen um die Befreiung ihres Landes geführte wurde. Sondern dass das Land zum Schauplatz für ganz andere Kämpfe geriet und die Menschen Geiseln blieben.

Seit 2017 lebt Yassin al-Haj Saleh, mit ­Unterbrechungen, in Berlin. Zunächst als Fellow des Wissenschaftskollegs, seit 2019 als PEN-Stipendiat in seiner kleinen Wohnung im Wedding. Fast jeden Tag spazierte er in der Pandemie durch den nahen Park, den Humboldthain, und hinauf zum monströsen Flakturm, in dem am Ende des Zweiten Weltkriegs die Menschen Schutz suchten. Ein Übriggebliebener aus dem Krieg auf dem Überbleibsel eines Krieges, er muss darüber lachen, er lacht ohnehin viel, wenn man ihn auf diesen Spaziergängen begleitet.

Al-Haj Salehs Vater starb, kurz bevor der Krieg begann, dem bis heute mehr als eine halbe Million Syrerinnen und Syrer zum Opfer fiel und vor dem etwa 13 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Seine Freunde und die Verwandten sind über Europa verstreut, Frankreich, Spanien, England. Die Brüder, dem IS entkommen, leben mit ihren Familien in den Niederlanden und Norwegen. Er ist nicht einsam, das kann er gar nicht mehr sein seit dem Gefängnis. Er schreibt jeden Tag. Aber Yassin al-Haj Saleh ist wütender denn je, auch wenn man ihm das selten anmerkt.

Und er fragt sich, warum sich zehn Jahre nach dem Beginn des Krieges kaum jemand in Deutschland für Syrien interessiere – für die eine Million Syrer, die in Deutschland lebt. Vielleicht verschwinden sie nie wieder? Sollten die Deutschen nicht genauer zuhören, um zu verstehen, welche Geschichten da Teil ihrer Geschichte werden?

Der Westen, sagt al-Haj Saleh, habe den Konflikt in Syrien als »kompliziert« abgehakt. Aber dann müsse man doch erst recht hinschauen

Aber es sei nicht nur Deutschland, sondern »der sogenannte Westen«, der den Konflikt in Syrien als »kompliziert« abgehakt habe. Und ignoriere, dass es viele »Verkomplizierer« gebe, die die diversen verfeindeten Gruppen unterstützen – Russland und die USA, die Türkei und der Iran, dazu Israel. »Wenn etwas kompliziert ist, sollte man doch erst recht hinschauen«, sagt al-Haj Saleh. »Dann würde man zwei Kriege sehen: den eines Volkes gegen seinen Diktator. Und den geopolitischen, den Besatzungsmächte auf dem Rücken dieses Volkes austragen.«

Die westliche Welt jedoch habe entschieden, dass auch in Syrien die größte Gefahr von Terroristen ausgehe und dass Baschar al-Assad sozusagen das kleinere Übel sei, »wahrscheinlich weil von hier aus betrachtet ein studierter Massenmörder mit Krawatte erträglicher erscheint als ein betender Massen­mörder mit Fusselbart«. Yassin al-Haj Saleh ist niemand, der Islamisten verharmlosen würde, sie haben ihm seine Frau genommen. Und doch weist er auf einem Spaziergang darauf hin, dass nur etwa fünf Prozent der Toten im syrischen Krieg dem IS anzulasten seien, ­die allermeisten dagegen dem Machthaber Baschar al-Assad. »Wir haben es mit einem Genozid-Regime zu tun«, sagt al-Haj Saleh. »In Deutschland höre ich oft, Syrien sei so eine Art DDR, aber nein: Syrien ist eher ein brutal stalinistischer Staat.«

Er würde gerne Noam Chomsky fragen, sagt al-Haj Saleh, warum er Baschar al-Assad verteidige. Aus altem Anti-Imperialismus im Kampf gegen Assad einen von den USA angezettelten Umsturzversuch zu sehen, beleidige ihn, sagt al-Haj Saleh, und alle Mitstreiter, die so viel geopfert hätten.

»Aber wir Syrer sind nicht nur Opfer«, sagt Yassin al-Haj Saleh, »deswegen will ich auch nicht, dass wir uns an diesen Status gewöhnen. Wir haben eine lange Geschichte im Ringen um Freiheit, und die ist noch nicht vorbei.« In Deutschland werde ihm bloß zunehmend klar, dass viele westliche Gesellschaften schon so lange nicht mehr für ihre Freiheit kämpfen mussten, dass sie vor allem mit dem Streit um eigene Identitäten beschäftigt seien. Deswegen fehle hierzulande Empathie für die syrische Sache. »Es geht nicht um Mitleid«, sagt al-Haj Saleh, »sondern um das Verständnis, dass Syrien das Land ist, das derzeit am besten das menschliche Leid auf ­dieser Welt symbolisiert.« Und vielleicht ist Yassin al-Haj Saleh der Mensch, der dieses Land am besten symbolisiert.

Ihm ist es jedoch recht, dass er im Berliner Exil weitestgehend unbemerkt und ungestört seiner Arbeit nachgehen kann. Zuletzt erschien von ihm, übersetzt ins Englische, The Impossible Revolution, jetzt schon ein Standardwerk zur Lage in Syrien. Und auch wenn er selbst nicht »die Stimme« sein will, glaubt Yassin al-Haj Saleh, dass viel mehr Syrerinnen und Syrer in Deutschland zu Wort kommen müssten. »Solange unsere Geschichten jenseits der Fluchterfahrung nicht da sind«, sagt er, »sind wir nicht da.« Ihm ist es unangenehm, dass er kaum Deutsch spricht. Mit anderen Dissidenten hat er ein Netzwerk gegründet, das junge syrische Autoren unter­stützen soll. Und er denkt an ein syrisches Kulturzentrum in Berlin. Das Problem sei, sagt Yassin al-Haj Saleh, allein seien die Syrer stark. Aber ­als Gruppe schwach. Das habe auch einen Grund: In Syrien herrschte immer eine Vertrauenskrise. Man wusste nie, wer ­einen verraten würde. Danach habe es eine kurze ­Phase der Gemeinschaft gegeben, doch die sei wiederum zerschlagen worden.

»Dein Mann ist noch immer derselbe Schriftsteller, der nur das Wort als Waffe hat«, heißt es in einem der Briefe an Samira, die Yassin al-Haj Saleh seit 2017 regelmäßig schreibt und von denen die ersten acht mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung von Larissa Bender ins Deutsche übersetzt wurden. Er berichtet seiner Frau darin, was sich in Syrien seit ihrem Verschwinden getan hat. Von der großen Politik. Und den toten Freunden. Es sind Liebesbriefe und Leitartikel zugleich.

Hat er Samira vor Augen, wenn er an sie schreibt? »Ich habe Samira immer vor Augen. Wenn ich an Syrien denke, denke ich an Samira. Und wenn ich an Samira denke, denke ich an Syrien.« Sie lebt, sagt er, bis er weiß, dass sie tot ist. Er habe kaum noch Hoffnung, aber an die klammere er sich. Er will nicht akzeptieren, dass dies sein viertes Leben ist, ohne sie. Ein Freund aus Damaskus will gehört haben, dass sie damals von der Miliz dem Regime übergeben worden sei. Wie grausam ist es, dass ein syrisches Gefängnis das Beste wäre, was ihr passiert sein könnte? Die 16 Jahre in Haft, sagt Yassin al-Haj Saleh, sind der Grund, warum er nicht verzweifelt. Das Gefängnis hat ihn gegen Verzweiflung geimpft.

Ende 2022 läuft Yassin al-Haj Salehs ­Stipendium in Berlin aus. Er weiß nicht, was dann kommt. Vielleicht versucht er, nach Norwegen zu kommen, zu seinem Bruder. Vielleicht nach England, der Sprache wegen.

Ist er froh, dass er die Covid-Infektion überlebt hat, obwohl er sich drei Tage lang bestrafen wollte, im April, in Paris? Yassin al-Haj Saleh nickt. Aber er lächelt dazu sein spöttisches Lächeln. Er muss es nicht aussprechen. Es wäre keine Strafe, wenn es vorbeiginge.

Seine Strafe ist, dass er weitermacht.