Klare Kante

Seit der 5. Klasse lebt Modedesigner Adrian Runhof mit seinem Geodreieck zusammen. Die beiden verstehen sich ohne Worte. Allerdings lässt sich das Dreieck nicht nur von ihm benutzen. Manchmal ist es tagelang verschwunden.

Wer: Adrian Runhof, Modedesigner, Modelabel „Talbot Runhof“
Was: Geodreieck von Aristo, ca. 3 Euro
Warum: Struktur zu Papier und Stoff bringen

»Normalerweise treten Johnny Talbot und ich immer als Duo auf. Aber Johnny ist der Falsche für diese Kolumne. Er hat nichts eigenes – keinen Kalender, keine Uhr, bis vor Kurzem nicht einmal ein Portemonnaie. Deshalb greift er sich auch ständig mein Geodreieck. Weil er keines hat. Dieses Aristo-Geodreieck begleitet mich schon seit der 5. Klasse, also seit 39 Jahren. Damals musste ich mir seinetwegen sogar ein neues Mäppchen kaufen, weil es nicht in mein smaragdgrünes rundes Lack-Etui gepasst hat. Also kaufte mir meine Mutter eine rechteckige Federmappe im Fake-Crocodile-Design. Meine zwei Mark Wochengeld waren schon für Eis am Stiel draufgegangen – Vanilleeis für 25 Pfennig, Capri Orange für 35 Pfennig.

Ich hüte das Geodreieck wie meinen Augapfel. Und bisher habe ich es – toi, toi, toi – nicht verloren. Zumindest nicht langfristig. Ich vermute nämlich, dass hier im Atelier niemand ein Geodreieck besitzt. Keiner gibt es zu, aber jeder benutzt mein Schulzeitrelikt und dann ist es so wie heute eine Weile verschwunden. Bisher ist es aber immer wieder aufgetaucht. Das alte Kunststoffdreieck ist nur wenig abgeschrabbt und noch gut ablesbar. Seine Ecken sind nicht abgerundet, sondern spitz. Im Grunde könnte ich einen rechten Winkel auch aus freier Hand zeichnen, aber ich greife ganz unbewusst nach dem Geodreieck. Manchmal schreibe ich etwas auf und unterstreiche mit dem Lineal wie in Trance und völlig zusammenhangslos ein Wort im Text. Schön mittig.

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Das Geodreieck passt gut zu mir. Ich bin leicht pedantisch, Tendenz zu neurotisch. Ich habe einen regelrechten Symmetriefimmel und rücke andauernd Dinge zurecht. Auf meinem Schreibtisch liegen Stifte, Papiere und sonstigen Dinge in Reih und Glied. Ich werde nervös, wenn nicht alles seine Ordnung hat. Geometrische Elemente gehören auch zu meiner Formensprache als Designer. Johnny und ich ergänzen uns perfekt. Er ist derjenige, der die weiche Linie der Kollektionen entwickelt, mit den Stoffen arbeitet und die Drapees und Faltenwürfe macht. Ich bin der exakte Gegenpart. Ich gebe allem eine Form, eine Struktur. Zum Beispiel bereite ich alle Stickereien vor. Muster sind bei uns überwiegend linear und geometrisch. Überall wo man hinsieht – auf den Kleidern, auf den Taschen – ist das Geodreieck verewigt.

Inzwischen besitze ich auch ein größeres Geodreieck mit einem Griff. Mein kleines ist mir aber nach wie vor lieber. Es ist vertraut. Ich bin auch generell einer dieser Menschen, die finden, dass früher alles besser war. Auf das große Modell habe ich trotzdem meinen Namen mit der Etikettiermaschine geklebt, damit es nicht auch permanent fort kommt. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas Piefiges einmal mache. Das ist mir fast unangenehm. Meinem kleinen Geodreieck tue ich das nicht an. Es soll immer genau so aussehen wie früher im Geometrieunterricht bei Herrn Möller-Rehm.«