Freundschaft

Das Mysterium der Verbundenheiten

Momentaufnahmen zu den wichtigsten Begriffen der Saison. Hier: Freundschaft
Auf einer der vielen Hochzeitsfeiern dieses Sommers stellte sich unter den Umherstehenden plötzlich die Frage, wie Braut und Bräutigam zu der Wahl ihrer Trauzeugen gekommen waren. Ein aufschlussreicher Moment, um zu erkennen, auf welche Weise Freundschaften funktionieren: Am Tag der Hochzeit wird ja ein doppelter Bund geschlossen, neben dem eigentlichen zwischen Mann und Frau auch der beiläufige zwischen zwei Menschen und ihren besten Freunden. Wer die Unterschrift auf dem Standesamt leistet, wirkt wie der Spitzenreiter eines Rankings in den beiden Freundeskreisen der frisch Getrauten.

Es stellte sich in der Unter-haltung heraus, dass das Hochzeitspaar ganz unterschiedlich mit dieser Entscheidung umgegangen war. Die Frau wusste sofort, dass es eine ihrer drei oder vier ältesten Vertrauten sein müsste, die sie schon aus Kindertagen kannte. Der Mann dagegen hatte lange Zeit keine Vorstellung, wen er fragen würde.

Nein, er war kein zurückgezogener Mensch, eher das Gegenteil; er hatte einen großen Freundes- und Bekanntenkreis – und gerade jetzt, durch die neue Arbeitsstelle, hatte er auf einen Schlag wieder etliche Freunde gewonnen. Aber er konnte an diesem einzigartigen Tag doch unmöglich jemanden neben sich bitten, dem er erst seit ein paar Monaten nahe stand; und auch die älteren Gefährten erschienen ihm nicht geeignet, kannten ihn nur von einer bestimmten Seite, hatten nicht an allen Facetten und Phasen seiner Biografie Anteil.

Meistgelesen diese Woche:

Gab es ihn in seinem Leben, den einen Freund, der seit Jahrzehnten mit ihm verbunden war, über alle Entwicklungen und Abschnitte hinweg? Wenn er ehrlich war: nein. Also wählte er, überraschend für alle, einen ehemaligen Arbeitskollegen aus, den er fast vollständig aus den Augen verloren hatte. Als Grund für die Entscheidung gab er an, dass dieser Kollege an jenem Abend vor fast zehn Jahren dabei war, als er seine jetzige Ehefrau kennenlernte, dass er ihn in dem Club damals sogar ermutigt hatte, das Mädchen auf der Tanzfläche anzusprechen.

An diesem Beispiel erweist sich, wie unterschiedlich der Zugang zu Freundschaften sein kann. Und ist der Gedanke abwegig, dass diese verschiedenen Konzepte mit dem Geschlecht der Beteiligten zusammenhängen? Es scheint, als hätten Frauen tatsächlich meistens eine überschaubare Anzahl von langjährigen Freundinnen, die sie schon seit dem Aufwachsen in derselben Straße oder seit der Schule kennen. Das Vertrauen zwischen ihnen ist längst nicht mehr auf konkrete Gemeinsamkeiten zu beziehen und überdauert auch lange räumliche Trennungen.

Das männliche Gegenmodell dagegen wäre etwas, was man eine Fülle von »projektbezogenen« Freundschaften nennen könnte: beruhend auf dem Arbeitsplatz, dem Sportverein, der gemeinsamen Band. Ursprung und Grenzen dieser Vielzahl von Verbindungen sind klar bestimmt; zusammen bilden sie ein Gewebe, dessen Bestandteile gleichberechtigt nebeneinanderstehen und sich vollständig unterscheiden von den konzentrischen Kreisen der Frauenfreundschaften, mit den innigsten im Zentrum und den flüchtigen am Rand.

Das Freundschaftsgeflecht ohne Hierarchien hat im Vergleich zu den konzentrischen Kreisen einen schlechten Ruf; es steht im Verdacht, der gesunden Erdung zu ermangeln, die Demarkation zwischen den richtigen und den falschen Freunden nicht ausreichend zu ziehen. Man kennt die gängigen Beichten von Leuten, die bei einem kurzzeitigen Höhenrausch den Boden unter den Füßen verloren haben und im Rückblick davon sprechen, dass sie erst in dieser Krisensituation gelernt haben, »wer die wahren Freunde sind«: die, mit denen man sich nicht nur in euphorischen Stunden an sich selbst berauscht, die, auf die man sich stets verlassen kann.

Doch die Wahrheit ist womöglich komplizierter und verstörender. Einmal, in einer schweren Zeit, war es tatsächlich so, dass sich die neu gewonnenen Freunde von einem Tag auf den anderen zurückzogen, klischeehaft wie in der Welt der Fernsehserien. Zum Glück waren plötzlich ein paar alte Weggefährten zur Stelle, hörten zu, boten ihre Hilfe an; sie waren mit vollem Recht das, was man »wahre Freunde« nennt. Doch einige Wochen später, nach den ersten Anzeichen der Erholung, trat etwas Merkwürdiges ein: Die Notwendigkeit der besonnenen Worte, des verständnisvollen Kopfnickens war vorbei; zurück kam langsam auch der Wille zur feierlichen Unverbindlichkeit.

Doch dazu waren die alten Freunde nicht in der Lage und nach und nach gerieten sie, die allein das Fach des Ernsten, das Krisenmanagement beherrschten, wieder in den Hintergrund. Der Wiederhergestellte begab sich zurück in den Sog derjenigen, die sich von ihm abgewandt hatten: ein wenig vorsichtiger vielleicht, reservierter, aber gleichzeitig im vollen Bewusstsein, wieder in diese Gesellschaft eintreten zu wollen. Verriet er in diesem Moment das Gut wirklicher Vertrautheit? Vielleicht folgte er nur der Einsicht, dass es keine Freundschaften ohne Kontext gibt.

Andreas Bernard ist Redakteur des »SZ-Magazins«.