Abtrittsbesuch

Seine Vorgänger hießen Gustav Mahler, Richard Strauss, Karl Böhm, Herbert von Karajan. Aber keiner regierte die Wiener Oper so lang wie er: Nach 18 Jahren tritt Ioan Holender ab. Ein letzter Besuch beim König

Angerufen werden möchte Holender schon gar nicht. Nach einer Dreiviertelstunde in seinem Büro zeigt er auf sein Telefon, einen unmodischen Festnetzapparat mit Kabel, und lächelt dabei, als habe er sich eben verliebt. Er weist darauf hin, dass es bisher kein einziges Mal geklingelt hat. Die Sekretärin wagt es nicht, einen Anruf durchzustellen, oder möglicherweise erdreistet sich auch längst niemand mehr, darum zu bitten, mit Holender verbunden zu werden. »Denn wenn ich, Frau Sängerin«, beginnt Holender eine unsichtbare Sängerin zu maßregeln, »Ihnen einen Brief schreibe, dann rufen Sie mich nicht an, um mich zu fragen, ob Sie eine Chance haben, hier zu singen!« Die imaginäre Sängerin geht ohne einen Mucks ab.

Es habe Jahre gedauert, das durchzusetzen, sagt der Staatsoperndirektor.
Ioan Holender zuzuhören, wie er über Opern spricht, wäre ein unschuldiges Vergnügen, denn Holender ist ein Großmeister der Macht, ein Feldherr der Menschenführung, ein Fürst der Selbstbehauptung, ein Grand-Slam-Sieger im Ränkespiel. Dazu kommen »zentraleuropäischer Charme, eine feine Nase für die besten Sänger der Welt, Offenheit für die Moderne«, sagt Gérard Mortier, der ehemalige Chef der Opéra Paris, über ihn. Mortier sagt auch: Persönlichkeiten wie Holender stellten heutzutage Ikonen dar. Andere wieder nennen ihn den Großmeister der internationalen Opernwelt und heimlichen Regenten Österreichs. Wem es wie Holender gelingt, die Plätze in der Staatsoper jeden Abend zu 97 Prozent zu besetzen, dem kann man nicht mehr viel vorwerfen.Noch kann man ihm an seinem angestammten Ort, im Direktorenzimmer, begegnen und von ihm lernen. Doch Ende August läuft sein Vertrag, den er selbst aufgekündigt hat, nach mehr als 18 Jahren aus. Damit ist er zum längstdienenden Direktor in der über 140 Jahre langen Geschichte der Wiener Staatsoper geworden. Seine Vorgänger im wohl berühmtesten Opernhaus der Welt hießen Gustav Mahler, Richard Strauss, Karl Böhm oder Herbert von Karajan. Sein Nachfolger heißt Dominique Meyer und kommt vom Théatre des Champs-Elysées.

Wie man sich den Machterhalt sichert, davon versteht Holender etwas: Sein Vertrag wurde viermal verlängert, gleich, wie sich die Regierung zusammensetzte. »Überfallsartig und ohne Ausschreibung«, wetterte die SPÖ deshalb im Jahr 2003. Dabei wurde er elf Jahre zuvor, 1992, vom SPÖ-Kanzler Franz Vranitzky persönlich mit der Führung der Wiener Staatsoper betraut. Wo Holender poli-tisch stand, war stets unklar; klar war, wer ihn unterstützte – die jeweilige Regierung.

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Wie übt man Macht aus, die einem von den höchsten Repräsentanten der Republik anvertraut wird? Als unumschränkter Alleinherrscher; als rarer Vertreter einer theatralisch-postmodernen Spielart des Absolutismus. Holenders Haus ist der Demokratie entzogen wie das Sultanat von Brunei. Er hat keine Lust, sich dafür zu schämen. Wer außer ihm sagt geradeheraus den Satz: »Ich habe mich hier von Anfang an zu einer Autokratenführung bekannt, ich kann das nicht anders?« Holender macht das ehrliche Bekenntnis zudem mit seinem wohlklingenden Akzent und dem sanften Timbre des einstigen Baritons, der gern Tenor geworden wäre.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Er greift zum Telefon, wählt die Nummer seiner Pressemitarbeiter und zählt die Anzahl der Freizeichen mit, »drei, vier« und legt murrend wieder auf)

Das wird ein ganz wunderbares und lehrreiches Gespräch, unbeeinträchtigt durch Kleingeist, Selbstzweifel oder Understatement. Sind Sie traurig, Herr Direktor, dass Sie bald gehen? Holender greift unvermittelt zum Hörer, wählt die Durchwahl seines Vorzimmers und sagt: »Ich brauche jetzt den Zettel, den ich der Presseagentur geschickt habe an jenem Tag im Februar, als ich gesagt habe, jetzt geh ich!«

Ziehen wir also den Schluss vor: Der Patriarch spürte, dass es dem Ende zuging. Es war unausweichlich, denn Holender wird 75 sein, wenn sein Vertrag offiziell am 31. August 2010 ausläuft. Aber er wollte vermeiden, hinauskomplimentiert zu werden, womöglich mit einem sogenannten Ehrenjahr. »Meine Ehre braucht kein Jahr, ich hab die auch so«, grantelt er bei dem Gedanken. Lange grübelte er, bis er an einem bitterkalten Wintertag in Stockholm entschied, wie er seinen Abgang inszenieren wollte. Er spazierte mit seiner Tochter, die damals neun war, Richtung Hotel, sie überquerten eine Brücke, Holender fror, Hunger hatte er auch. »Da arbeitete der Kopf plötzlich so gut«, erinnert er sich.

Vor seinem geistigen Auge sah er sich bei Unterrichtsministerin Claudia Schmied in Sachen Vertragsverlängerung antichambrieren, und es war kein schöner Gedanke. Wieder daheim in Wien schrieb er um halb neun Uhr in der Früh von Hand einen Zettel, dass er seinen Vertrag nicht verlängern werde, und faxte ihn an die APA, die Austria Presse Agentur.

Er hätte auch die ressortverantwortliche Ministerin vorab verständigen können, aber dann wäre er nicht Holender. Ein Fax sei die zweitniedrigste Form der Kommunikation nach dem E-Mail, erläutert er schelmisch. Indem er direkt die Austria Presse Agentur informierte, hatte niemand die Chance, Holender zuvorzukommen. Es war sein Wille, der verlautbart wurde.

Plötzlich, mitten im Gespräch, fällt Holender ein, dass er vor Jahren ein besonders gelungenes Radio-Interview gegeben habe, wie hieß doch gleich dieser Radio-Mann? Er greift zum Telefon, wählt die Nummer seiner Pressemitarbeiter und zählt die Anzahl der Freizeichen mit, »drei, vier«. Legt murrend wieder auf und kehrt zum Gespräch zurück; erzählt von seiner Angst. Sie sei das Gefühl, das ihn in seinem Leben am längsten begleitet habe. Faschismus und Nationalsozialismus waren die prägenden Erfahrungen in seiner Kindheit im rumänischen Temesvar. Er entstammt einer jüdischen Familie und wurde 1935 geboren. Nach dem Krieg dann die Enteignung der Marmeladen- und Essigfabrik seines Vaters durch die Kommunisten.

Er studierte Maschinenbau, Spezialgebiet Dampfmaschinen, wurde aus politischen Gründen von der Uni ausgeschlossen. 1959 schließlich durfte er nach Wien ausreisen, wo seine Mutter wartete. Angst empfinde er heute noch, wann immer er einen Polizisten auf der Straße sieht.

In Österreich studierte er Gesang, schlug sich als Tennislehrer durch und wurde mit 29 als Bariton ans Stadttheater Klagenfurt engagiert, »vielleicht war ich nie mehr so glücklich wie damals«. Ein paar Jahre später gründet er die Opernagentur Holender. 1991 wird er Generalsekretär der Wiener Staatsoper, 1992 – und bis heute ihr Direktor.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein alternder Robert Mugabe mag eine Regierung der nationalen Einheit akzeptieren, ein Ioan Holender niemals)

Holender greift erneut zum Telefon, wählt die Nummer des Vorzimmers. »Was ist da in diesem Pressebüro, was machen die? Es sind zwei Menschen dort, einer kann ja im Büro sitzen. Ich will dieses Gespräch mit dem Huemer, haben die das?« Der Pressesprecher kommt herein, gefolgt von der Sekretärin. Die Aufzeichnung des Radio-Interviews sei unauffindbar. »Die wichtigsten Sachen haben Sie nicht!«, empört sich der Direktor. Die Mitarbeiter machen zerknirschte Gesichter und gehen ab. Der längstdienende Wiener Staatsoperndirektor aller Zeiten führt sein Haus bis zum letzten Tag makellos hierarchisch.

Ein alternder Robert Mugabe mag eine Regierung der nationalen Einheit akzeptieren, ein Ioan Holender niemals. »Ich muss entscheiden, was wir hier spielen, wer hier singt, und – was noch viel dramatischer ist: wer hier nicht singt.« Das muss einem liegen. Holender sagt, er beende die Karriere eines Sängers »lieber fünf Minuten zu früh als fünf Minuten zu spät«.

Dass Holender über allen und allem thront, müssen auch die Regisseure akzeptieren: Wenn Sven-Eric Bechtolf der Wiederaufnahme des von ihm inszenierten Rings seinen Namen verweigern will, weil ihm die Umbesetzungen missfallen, erläutert Holender das Organigramm seines Hauses: Es handle sich da um eine »katholische Trinität – Regisseur, Dirigent, Sänger«. Und über den Dreien steht der Direktor?
Holender nickt: »Schlussendlich.«

Sind Sie arrogant, Herr Direktor? Holender sagt nicht Nein. Er hasse Umwege, erklärt er, er könne es nicht ausstehen, Zeit zu verlieren. Deshalb habe er auch eine tiefe Abneigung dagegen, jedem, der zur Tür hereinkommt, die Hand zu geben. Wenn er seine Mitarbeiter anruft, stellt er sich nicht vor, begrüßt sie nicht, sondern fragt bloß: »Und?« Man habe ihn aus diesem Grund als arrogant eingestuft, »aber es funktioniert wunderbar«.

Seine Obsession, dass alles, was er verlangt, immer noch schneller geschehen müsse, ist für seine Umgebung eine Mühsal. Aber es ist nicht Arroganz, die aus dem Drang nach Überhöhung der eigenen Person genährt wird, sondern eher eine rücksichtslos ausgelebte Schrulle, die Holender durchaus bewusst ist. Amüsiert erzählt er, dass Besucher mittlerweile bereits vorgewarnt würden, dem Direktor bloß nicht die Hand hinzustrecken, der habe das nicht so gern.

Zeit spart Holender, wo er kann. Wenn Sänger sein Büro die Ankunftszeiten ihres Fluges wissen lassen, ignoriert er die absichtsvolle Mitteilung. Der Direktor holt niemanden vom Flughafen ab. Es gebe ausreichend Möglichkeiten, in die Stadt zu kommen, ätzt er. Er habe in den fast zwei Jahrzehnten als Operndirektor immer Zeit für alles gehabt, wofür er Zeit haben wollte. Sogenannte gesellschaftliche Verpflichtungen fielen nicht darunter. Folgte er all den Einladungen zu Empfängen, Feiertagen und Eröffnungen, würde er dick und käme dauernd spät ins Büro. Beides verabscheut Holender.

Er ist ein schöner Mann, er hat Charme. Er ist in Eile, aber nie oberflächlich. Stolz sagt er, sein Arbeitstag ende mit dem Schluss der Vorstellung. »Bei den Salzburger Festspielen ist es wichtig, was nach der Vorstellung passiert, hier ist wichtig, was während der Vorstellung passiert.« Er blickt seinen Worten kurz hinterher. »Wenn Sie das schreiben, gibt es wieder einen Wirbel.« Die Sekretärin möchte wissen, wie sie die Einladung zur Ausstellung und zum Gala-diner in der Albertina, einem Palais mit einer bedeutenden Kunstsammlung, beantworten soll. »Sagen Sie alles ab und bringen Sie mir einen Kaffee.« Dann ruft er ihr nach: »Um halb zwei muss ich Tennis spielen.«

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Auf Wiedersehen. Kein Händedruck.)

Tennisspielen ist Holenders Leidenschaft geblieben. Zu Beginn seines Arbeitslebens jobbte er als Tennislehrer. Er nennt körperliche Betätigung seine Droge. Sie werde ihm helfen, den Machtverlust zu überwinden. »Auch wenn Sie das lächerlich finden.« Man werde ihn weniger grüßen, mutmaßt der abtretende Direktor. Er, der für sich in Anspruch nimmt, die Staatsoper in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht zu haben »wie keiner meiner Vorgänger«, wird aus der Öffentlichkeit verschwunden sein. So lange war er Direktor, dass ihm alles schon mal vorgeworfen wurde: zu progressiv zu sein, zu konservativ, zu viele Stars zu holen, zu wenige, sich zu sehr nach den Publikumswünschen zu richten und zu wenig natürlich auch.

Es wird ihm schwerfallen, sich nicht mehr polternd-elegant einzumengen. Es ist eines seiner Talente. Er schickt beleidigte Faxnachrichten an Journalisten, die ihn oder sein Haus nach seinem Empfinden ungerecht behandelt haben. Er kämpft mit dem ORF um Opernübertragungen diesseits der bettschweren Stunden. Er lästert: »Schauen Sie, dieser stupide Opernball!« Holender gibt lustvoll den Entsetzten. Er habe sich »in diese Tiefen hinuntergelassen« und sich zur Frage der Fernseh-Moderatoren bei der Ball-Übertragung geäußert, und so sei er in die Society-Spalten der Zeitungen geraten. Dabei sei das doch wirklich keine Angelegenheit des Staatsoperndirektors, plustert er sich auf. Nein, gibt er sich selbst die Antwort, aber es gehöre nun mal dazu, und »ich muss es machen«.

Er habe sehr erfolglos gekämpft, was den Opernball betrifft, behauptet Holender. Das muss man ihm nicht glauben. Es war ihm vergönnt, als Hausherr naserümpfend allen Ballbesuchern das Gefühl zu geben, sie seien in das richtige Haus gekommen, aber aufgrund unverzeihlicher Blödheit am falschen Tag. Wenigstens brillierte der Herr Direktor an diesen Abenden im Fach Arroganz. Wenn es jetzt noch eine Lehre gibt, die bedeutender ist als die bisherigen, dann diese: Alle Macht ist sinnlos, wenn ruchbar würde, dass sie Selbstzweck sei. Damit gebe sich ein Machthaber der Lächerlichkeit preis. Ein Operndirektor etwa braucht ein künstlerisches Prinzip, dem er treu ist. Worin liegt seine Mission? Er sagt Qualität, aber wer kann das beweisen? Zum Beispiel Elfriede Jelinek, wenn auch indirekt.

Sie schrieb ein Libretto für eine gemeinsame Oper mit Olga Neuwirth. Holender war interessiert – bis er den Text Der Fall Hans W. gelesen hatte. Dann lehnte er ab. Wenige Tage später erhielt Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis, Holender lächelt verschmitzt. Er liebt diese Episode. Eine Nobelpreisträgerin als Librettistin hätte das Programm geschmückt. Sie wegen künstlerischer Bedenken abgelehnt zu haben, adelt den Direktor, denn: »Man muss mir zugestehen, bei aller Bescheidenheit eine Meinung zu haben«, sagt Holender ohne jede Bescheidenheit.

Holender springt auf. »So, das war’s!«
Auf Wiedersehen. Kein Händedruck.

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Robert Treichler, Chefredakteur des österreichischen Magazins Fleisch,
war von der Pressestelle der Wiener Staatsoper mitgeteilt worden,als eine Stunde dauerten. Die Dateiinformation des digitalen Aufnahmegeräts zeigte anschließend: 1 Stunde und 47 Sekunden.
Holender hatte nicht auf die Uhr gesehen.

Fotos: Peter Rigaud