So klang meine Kindheit

Zerbrechendes Glas, rauschende Baumwipfel oder das Nägelfeilen der Mutter: Bekannte Musikerinnen und Musiker wie Gregory Porter, Schorsch Kamerun und Anne-Sophie Mutter sprechen über schöne und hässliche Geräusche, die sie prägten.

Der heute 46-jährige Gregory Porter (links) als Teenager, noch ohne Mütze.

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Gregory Porter, Jazzsänger

»Ich habe keine Ahnung, wie wir neun damals in dieses Haus in Bakersfield in Kalifornien gepasst haben – acht Kinder und meine Mutter. Aber irgendwie hat es funktioniert. Meine Mutter war Pfarrerin, weshalb wir viel in der Kirche waren, aber sie betete auch zu Hause häufig. Das machte sie auf ihre ganz eigene rhythmische Art, ohne Worte. An ihrem Summen beim Gebet konnte ich erkennen, ob sie bedrückt oder fröhlich war. Und bedrückt war sie häufig, denn alle paar Tage warf jemand unsere Fenster ein. Das Geräusch von splitterndem Glas lässt mich bis heute zusammenzucken. Die Leute urinierten in Flaschen und warfen sie auf unser Haus. Ich erinnere mich an laute Rock- oder Countrymusik, die aus ihren Autos dröhnte, und an die Schimpfwörter wie ›Nigger‹ oder ›Affe‹, die sie riefen. Als ich neun Jahre alt war, verfolgte mich so ein Auto. Der Motor heulte laut, und einer der Typen reckte ein Messer aus dem Fenster. Ich weiß noch genau, dass er eine große Tätowierung auf seinem Arm hatte. Sie beschimpften mich, ich rannte weg. Ich konnte nicht fassen, was mir da gerade passierte. Ich war’s doch nur, Gregory, ein neunjähriger Junge! Ich habe meiner Mutter davon erzählt. Sie versicherte mir immer wieder, dass ich nichts falsch mache. Sie sagte, dass ich über niemandem stehe, aber auch unter niemandem. Sie sprach von der Schönheit unserer Haut, unserer Kultur und davon, dass wir Respekt verdienen. Gott sei Dank hatte ich so eine Mutter! Ich habe alle ihre Predigten, Lehren und Gefühle verinnerlicht und verwandle sie heute in meinen Songs in Poesie.«

Kat Frankie, Elektropop-Musikerin

Meistgelesen diese Woche:

Kat Frankie, damals acht, heute 40, kommt aus Sydney. Seit 2004 lebt sie in Belrin.

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»Das Beste, was man in dem Vorort von Sydney, in dem ich aufgewachsen bin, an einem heißen Tag machen konnte, war, in den Pool zu springen. Ich erinnere mich genau an dieses ›Platsch!‹, wenn eines von uns Kindern sich ins Wasser stürzte. In der Umgebung waren viele Parks, in den Bäumen hörte man die Vögel singen. In Australien machen die aber echt merkwürdige Laute. Was für ein furchtbares Zwitschern! Das habe ich erst in Berlin gemerkt, wo alle Vögel schön und niedlich klingen. Nach der Schule habe ich oft Songs aufgenommen. Dafür habe ich ins Mikrofon meines Kassettenrekorders gebeatboxt oder eine Harmonie gesungen und aufgezeichnet. Das habe ich dann wiederum abgespielt, darauf gesungen, wieder aufgenommen – eigentlich mache ich mit meiner Loop Station heute nichts anderes. Irgendwann knirschte das Auto meiner Mutter in der Einfahrt. Dann wusste ich, die Party muss morgen weitergehen.«

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Faber alias Julian Pollina, Singer-Songwriter

»Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir sofort Geräusche ein, die man heute kaum mehr hört. CDs, die springen, zum Beispiel. Ich hatte eine echt schlecht gebrannte Nirvana-CD, auf die ich sehr stolz war. Aber ich habe überhaupt nicht darauf aufgepasst. Irgendwann war sie so kaputt, dass man sie fast nicht mehr hören konnte. Ich habe auch mega gern ferngesehen, oft heimlich. Blöd war nur, dass die Fernseher damals noch so geploppt und geknistert haben, wenn man sie ausgemacht hat. Da bin ich natürlich aufgeflogen. Mein Vater ist ja Sänger und war schon in meiner Kindheit viel auf Tour. Deshalb waren wir oft zu dritt in unserer Wohnung im Zürcher Seefeld. Wenn mein Vater mal zu Hause war, gab es auch Phasen, in denen er Lieder geschrieben hat. Das war was Schönes: nach Hause zu kommen und ihn und das Klavier schon von Weitem zu hören.«

Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen

Sänger Schorsch Kamerun, heute 55, mit sechs Jahren am Timmendorfer Strand.

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»Bootsmotoren unterscheide ich richtig gut. Ich könnte zwar nicht bei Wetten, dass . . ? antreten, aber ich weiß, wie ein ›Seelöwe‹ klingt oder ein ›Hanseat‹, Ausflugsdampfer, die am Timmendorfer Strand herumschippern, seit ich denken kann. Dort bin ich in den ersten sechs Jahren meiner Kindheit aufgewachsen, direkt am Wasser. Ich war gern am Strand, weil dort kein Druck herrschte. Ich komme aus einer spannungsgeladenen Familie. Wenn nichts gesprochen wurde, wusste man: Das wird sich ändern, und leider nie günstig. In den wortlosen Phasen hat sich mein Stiefvater mit alten Rasierapparaten bear­beitet, und meine Mutter feilte ausufernd ihre Nägel. Diese Sounds waren Drohsignale, eine grausame ­Pausenmusik, die nur bedeuten konnte: Gleich bricht gefährlicher Streit aus. Nägelfeilen bereitet mir bis heute harte Gänsehaut. Es ist der schmerzvollste Klang, den ich kenne, weil ich ihn mit der Nervosität meiner Mutter verbinde und mit den Explosionen, die verlässlich folgten. Wir sind dann für einige Jahre von der Ostsee weg in ein Autohaus in den Hamburger Speckgürtel gezogen. Da lebten wir plötzlich in einem kleinen, menschenfremden Gewerbegebiet in einer sehr engen Wohnung, die direkt an die Werkstatt angehängt war. Es dominierten Schweißgeräusche, Blechhämmer und in der Privatsphäre die Marschmusik meines Stiefvaters. Er war Mitglied im örtlichen Schützen­verein, also kam seine gesamte, immer sehr besoffene Waffengilde regelmäßig zu uns nach Hause. In mein Kinderzimmer klangen frivole Scherze und klirrende Gläser, oft gab es Verletzte – ein fürchterliches Regime. Damals habe ich mir eine Parallelwelt aufgebaut, ich wurde ein Zündelkind, das Briefkästen, Ölfässer, einmal fast eine komplette Chemiefirma ansteckte. Mit Brandgeräuschen kenne ich mich also auch gut aus. Ich glaube, man macht das, trotz Schuldempfinden, um seine Identität zu behaupten, wahrgenommen zu werden. Ein ­banaler Schrei nach Liebe. Manche bricht das. Ich bin nach drei Therapien und anhaltender Strampelei auf einem, sagen wir, aufsteigenden Ast.«

Maurice Ernst von Bilderbuch

Die Bühnenqualitäten von Maurice Ernst, 30, Sänger von Bilderbuch, waren früh zu erkennen.

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»Meine Eltern hatten in Kremsmünster in Österreich ein Nachtlokal mit Disko. Eine Zeit lang wohnten wir sogar direkt über der Disko. Nachts habe ich den Rhythmus durch die Wände gespürt. Wir besaßen kofferweise CDs. Ich habe mich daran bedient und durfte auch aufdrehen und laut sein. Meine Mutter hatte eh einen coolen Musikgeschmack. Sie hörte vor allem italienische Musik von Lucio Battisti, der bis heute eines meiner wichtigsten Gesangsvorbilder ist. Ich habe von dem Text nix verstanden, aber das war egal. Ich habe einfach in einer Art Fantasiesprache mitgesungen. So arbeite ich heute noch. Ich singe etwas ein, was nichts bedeutet, und hangle mich dann vom Klang zu den Wörtern.«

Mieze Katz von Mia

Bevor ihr Herz hungrig wurde: die heute 39-jährige Mieze Katz als Vierjährige.

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»Ich bin auf einem Bauernhof in Berlin-Pankow groß geworden, in einem kleinen Holzhaus, das umgeben war von Feldern und Wäldern. Wenn ich abends nicht schlafen konnte, kletterte ich aus den niedrigen Fenstern unseres Hauses, um über die Felder zu laufen. Ich hatte überhaupt keine Angst, weil ich die Wege kannte und mich ganz sicher gefühlt habe. Denke ich an das Haus, höre ich meine nackten Kinderfüße auf dem gemusterten Steinboden in der Küche und erinnere mich an die Weihnachtszeit mit meiner Mama. Wir haben jedes Jahr gemeinsam Lebkuchen gebacken und ganz viel gesungen: ›Hejo, spann den Wagen an. Denn der Wind treibt Regen übers Land‹. Wenn ich im Ferienlager war und Heimweh ­hatte, telefonierte ich mit ihr, und wir sangen den Kanon zusammen. Der hat mich an die Hand genommen und getröstet.«

Michael Barenboim, Violinist

Mit vier saß Michael Barenboim, heute 33, das erste Mal im Orchestergraben.

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»Meine ganze Familie macht Musik. Meine Eltern sind Pianisten, mein Bruder ist Hip-Hop-Produzent, und auch meine Großeltern haben musiziert. Zu Hause wurde sehr viel Klavier gespielt, fast immer. Egal ob in unserer Wohnung über dem Salle Pleyel in Paris, wo mein Vater das Orchestre de Paris leitete, oder später in unserem Zuhause in Berlin-Zehlendorf. Dabei muss einem aber klar sein: Üben ist nicht Konzert. Das ist sehr viel Wiederholen und sehr viel Arbeit, die keinen Spaß macht und auch nicht schön zum Zuhören ist. Mit sieben habe ich selbst begonnen, Geige zu spielen. Man muss sehr lange üben, bis da überhaupt ein sauberer Ton rauskommt. Das war oft langweilig. Dazu kam das Sprachwirrwarr: Französisch, Englisch, Russisch. Ich denke, unterbewusst wirken die Klänge meiner Kindheit auch in meine Musik. Aber ich spiele ja vor allem Stücke anderer Menschen, da sollte man sich selbst nicht so wichtig nehmen.«

Pumeza Matshikiza, Sopranistin

Aus dem Township auf die Opernbühne: die heute 39-jährige Pumeza Matshikiza als Mädchen.

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»Schafe, Ziegen, Hühner, das Mähen, Meckern, Gackern der Tiere, so klang der erste Teil meines Lebens. Die ersten drei Jahre wohnten wir mit meinen Großeltern, Onkeln und Tanten in einem Ziegelhaus in Tsomo am südafrikanischen Ostkap. Wir hatten kein elektrisches Licht in unserem Dorf, die Abende waren stockfinster und still. In der Früh wurden wir vom Sonnenlicht und den Hahnenschreien geweckt. Als ich drei war, trennten sich meine Eltern, und für meine Brüder und mich begann das Leben in den Townships. Zu der Zeit wurde in Südafrika die Apartheid abgeschafft. Meine Mutter zog mit uns von einem Elendsviertel zum nächsten, Menschen wurden auf offener Straße erschossen und verbrannt, weil man sie für Spione des Apartheid-Regimes hielt. In der Nacht hörte man Schüsse und Polizeisirenen. Bis heute kann ich keine Proteste und Straßendemonstrationen besuchen, weil es mich zu sehr an diese Zeit erinnert.«

Anne-Sophie Mutter, Violinistin

Die heute 55-jährige Anne-Sophie Mutter mit ihrer ersten Geige.

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»Das Rauschen des Windes in den Tannenwipfeln ist für mich bis heute untrennbar mit Heimat verbunden. Als ich vier Jahre alt war, bin ich mit meiner Familie nach Wehr gezogen. Direkt hinter unserem Haus begann der Schwarzwald. Im Wald hat sich unsere Freizeit abgespielt. Meine Brüder und ich haben kleine Burgen gebaut, Forellen gefangen, Fußball gespielt oder sind auf Bäume geklettert. Wenn wir gerade nicht im Wald unterwegs waren oder das Knallen des Balls auf dem Garagentor zu hören war, dann regierte im Haus die Musik. Aus den Boxen drangen die große Ella Fitzgerald oder die raue Stimme von Louis Armstrong. Wir hörten aber auch viel Geigenmusik, was bei mir den Wunsch auslöste, selbst Geige zu spielen. Meine Eltern fanden die Idee nicht so toll, weil wir vor unserem Umzug in einem größeren Mietshaus gewohnt hatten, wo in der Nachbarschaft furchtbar gegeigt wurde. Ich konnte mich durchsetzen und habe mich dann beim Üben immer um einen schönen Klang bemüht. Ich wollte nicht, dass die Geige kratzt, weil ich das Gefühl hatte, ihr damit wehzutun.«

Aloe Blacc, Soulsänger

Der 39-jährige Aloe Blacc als Erstklässler.

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»Düsenjets, die mit einer enormen Geschwindigkeit am Himmel vorbeiziehen und dabei ein dröhnendes Geräusch erzeugen: So klang meine Kindheit. Wir lebten zu viert in einem bescheidenen Häuschen in Orange County, Kalifornien. In der Nähe gab es eine Militärbasis. Von dort aus starteten mehrmals täglich Flugzeuge, die den ganzen Tag über zu hören waren. Die meiste Zeit verbrachte ich allerdings im Auto des älteren Bruders meines besten Freundes, um laut Hip-Hop zu hören und Raptexte auswendig zu lernen. Ein Lied, das mir dabei besonders in Erinnerung geblieben ist, ist Midnight Marauders von A Tribe Called Quest: »The night is on my mind /  The sun’ll still shine / But the night is on my mind / So parlay while I drop this rhyme«. Zu Hause habe ich oft meiner Schwester beim Singen zugehört, oder meinem Vater, denn wenn er nicht auf Reisen war, saß er zu Hause und spielte Calypso-Lieder auf seiner Ukulele.«

Sophia Kennedy, Elektropop-Musikerin

»Alles, was meine Mutter macht, macht sie laut. Wenn ich morgens aufgewacht bin, war sie immer schon wach und hat entweder laut telefoniert oder hatte das Radio laut aufgedreht. Diese Lautstärke zieht sich wie ein roter Faden durch meine gesamte Familie. Es war nie still in unserem Haus in einem Vorort von Baltimore, und das war ein beruhigendes Gefühl. Die laute Stimme meiner Mutter ließ weniger Platz für meine dunklen Fantasien und die bösen Geister, die kommen und einen holen wollen. Für mich kann Musik bis heute nicht laut genug sein, ich sitze teilweise sechs Stunden vor den Boxen im Studio, obwohl mir danach körperlich schlecht ist. Ich merke immer erst danach, dass ich gerade über Stunden bis zum Erbrechen laut Musik gehört habe.«