Unerhört

Evelyn Glennie ist so gut wie taub - und trotzdem eine der besten Schlagzeugerinnen der Welt. Die Geschichte eines kleinen Wunders.


Vor Jahren bewarb sich die Schlagzeugerin Evelyn Glennie bei einem berühmten Ensemble. Sie zog, wie es ihre Art ist, vor dem Vorspielen die Schuhe aus, zur Verblüffung des Dirigenten.
»Wollen Sie mit den Füßen spielen?«, giftete er. Glennie murmelte, barfuß zu sein helfe ihr, die Musik zu hören.
»Sie ist taub«, erklärte der Musiker, der für Glennie gebürgt hatte.
»Wirklich?«, fragte der Dirigent. »Wie konnte sie dann verstehen, was wir sagen?« Er sprach, als wäre sie nicht mehr anwesend. Jetzt erhob Glennie ihre Stimme. »Ich lese Lippen«, sagte sie.
»Hör auf zu lesen und fang an zu spielen«, sagte der Dirigent. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Da griff Glennie ihre Stöcke und wirbelte so lange in wildem Stakkato über die Mülltonnen, in denen der missmutige Dirigent wohnte, bis er juchzte.

Seitdem zählt Evelyn Glennie zum Ensemble der Sesamstraße. Sie hat mit Stars wie Björk oder Sting gespielt und mit den meisten der großen Philharmonie-Orchester musiziert – aber in keinem Konzert kamen sich die zwei Seiten ihrer Karriere so nahe wie damals, als sie vor Oskar auftrat, dem grünen Griesgram aus der Mülltonne: Sie, die ertaubte Schlagzeugerin, trommelte sich in die Sesamstraße.

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Gewöhnlich trennt Glennie ihre Kunst und ihr Gehör strikt. Sie hat Veranstaltern lange verboten, Informationen über ihren Hörsinn zu verbreiten. Bis heute enthält die Biografie auf ihrer Homepage keinen Hinweis darauf. Sie will als Musikerin wahrgenommen werden – aber sobald ihr Gehör ins Spiel kommt, sehen Menschen sie als Wunder oder als Schwindlerin.

Sie steht in den Kulissen, eine ergraute Frau von fast fünfzig Jahren, umgeben von Pauken, Trommeln, Becken. Sie trägt ihr Haar lang, es fällt auf ihre Schultern wie ein Schleier. Sie ist sauer. In acht Stunden soll sie vor ausverkauftem Haus auftreten, Höhepunkt des Musikfestivals von Moers. Aber nichts ist aufgebaut. Jetzt befiehlt sie die Bühnenarbeiter selbst, die Stimme höflich und schneidend. Die Arbeiter flüchten davor in Geschäftigkeit, aber ihre Blicke bleiben Glennie nicht verborgen: Die soll taub sein? Die hat es doch voll drauf! Sie hat es so satt.

Als Evelyn Glennie ihr Gehör zu verlieren begann, war sie acht Jahre alt. Sie lebte auf einem Bauernhof im Nordosten Schottlands, nahe Aberdeen. Sie hatte früh Mundharmonika gespielt, dann Klavier, schließlich Klarinette. Sie hatte ein Gespür für Melodien. Erst merkte sie nichts. Ohrenweh mal, und oft nuschelten die Brüder nur. Sie war die jüngste. Sie kam schon zurecht. Seltsam war nur, dass ihre Nähe zu den Tönen schwand.

Ihre Musiklehrer hatten schnell begriffen: Das Mädchen hat das absolute Gehör. Nun erlebte sich Evelyn zwiegespalten: Die Töne klangen in ihren Gedanken klar und rein, aber sie vernahm sie verwaschen, als hinke ihr Gehör hinterher.

Vor ihrem Übertritt in die höhere Schule, 1977, stellte ein Amtsarzt fest: Das Kind ist hochgradig schwerhörig, Folge einer schleichenden Schädigung des Hörnervs, vermutlich ausgelöst durch eine verschleppte Entzündung. Er empfahl, es umgehend in eine Sonderschule für Gehörlose zu schicken. Musikerin? Nie im Leben.

Evelyn hatte das Gefühl, zum Krüppel erklärt zu werden. Zu Hause nahm ihr Vater sie zur Seite. Ob mit Gehör oder ohne, sagte er, sie solle im Leben tun, was sie tun wolle. Evelyn, gerüstet mit den stärksten Hörgeräten, wechselte auf die Oberschule. Dort wusste niemand, wie mit diesem Mädchen umgehen. Erst hatte Evelyn ein Geheimnis um ihr Gehör gemacht: Sie hatte sich das Haar so lang wachsen lassen, dass es ihre Hörgeräte verbarg. Dann kam heraus, dass sie kaum auf Hilfe angewiesen war: Seit ihr Hörsinn schwand, hatte sie sich angewöhnt, von den Lippen der Menschen zu lesen, was ihren Ohren entging. Schließlich erklärte sie, Schlagzeug lernen zu wollen.

Sieben Stunden noch. Sie streift das Spalier der aufgebauten Trommeln entlang, pocht auf Klangkörper, fährt über die Felle. Manche schlägt sie an. Manche streichelt sie nur. Am Anfang ihrer Karriere ließ sich Glennie ihre Instrumente einfliegen, um überall auf vertrauten Trommeln zu spielen, aber das ist unbezahlbar geworden. Sie hat über hundert Auftritte im Jahr. In ihrem Studio im Norden Londons stehen 1800 Instrumente. Sie spielt jetzt meist auf Schlagwerk, das ihr fremd ist. Deswegen das Prüfen. Sie verleibt sich den Klang ein.

1978 ließ sich der Schlagzeug-Lehrer des Schulbezirks, Ron Forbes, auf das Experiment ein. Am Anfang der ersten Stunde drückte er Evelyn eine Marschtrommel in die Hand und sagte: Bis nächste Woche dann. Ehrfürchtig nahm Evelyn das Instrument mit auf den Bauernhof. Kein Ständer. Keine Stöcke. Tag für Tag spielte sie an der Trommel herum.

Die Woche darauf fragte Forbes, wie weit sie gekommen sei. Eingeschüchtert schwieg Evelyn. Da sagte Forbes: Gib mir das Gefühl eines Traktors. Evelyn kehrte die Trommel um, schnalzte die Schnarre auf und schmirgelte damit über das Instrument.

Regen, sagte Forbes. Evelyns Finger spritzten über das Fell.
Schnee, sagte Forbes.
Schnee?, fragte Evelyn.

Schnee macht kein Geräusch, sagte sie. Dann kam sie drauf. Er hatte nicht nach dem Geräusch gefragt. Er hatte nach dem Gefühl gefragt. Sie suchte einen Weg, die Empfindung auszudrücken, wenn eine Schneeflocke auf der Wange zerrinnt. Sie scheiterte. Dann bis nächste Woche. Bis heute ist Forbes’ Art, ein Talent zu fordern, ihr Ideal von Musikunterricht.

Wenige Wochen später befahl Forbes, ihr Hörgerät auszuschalten. Er hatte den Eindruck, es hindere Evelyn. Da das Gerät ausnahmslos alle Laute verstärkte, erzeugte es keine Klarheit unter den Klängen, sondern Chaos. Unterhielt sich Evelyn unter Menschen, wurde ihre Stimme unbewusst schriller. Spielte sie Musik mit anderen, schlug sie immer lautere Töne an. Jetzt legte der Lehrer Evelyns Hände an die Wände des Proberaums und begann, langsam auf Pauken zu spielen.

Wo fühlst du das, fragte er. Die Beine hinauf, sagte Evelyn. Es war ein tiefer Ton. Und das? Im Nacken. Ein hoher Ton. So stimmten sie die Pauken, und mit ihnen stimmte Evelyn ihren Körper auf den Schall. Es dauerte. Manche Töne waren flüchtig wie ein Windhauch, manche so erschütternd, dass sie noch im Bauch bebten, wenn schon die nächsten die Glieder stürmten. Nach und nach bemächtigte sich Evelyn der Klänge aller Schlaginstrumente, derer sie habhaft wurde. Es war ein großartiges Gefühl. Sie war wieder im Einklang mit den Tönen. Es dauerte nicht lang, und sie spielte ihre ersten Konzerte.

Sie konnte Aufnahmen nur spüren, wenn sie sich einen Lautsprecher zwischen die Schenkel klemmte.

Sechs Stunden noch. Sie kniet in ihrer Garderobe, vor sich einen Schalenkoffer, aus dem Stoffknäuel quellen. Fluglinien-Strümpfe. Sammelt sie. Sie stülpt einen um, und eine Zimbel fällt in ihre Hand. So transportiert sie Schätze. Sie hat heute eine »Magic Mozart«-Zauberflöte für Kinder dabei, ein Nebelhorn und einen seltsamen Apparat mit Antenne. Was ist das? »Spielzeug«, sagt sie. Sie schaltet es ein und bewegt ihre Hände um die Antenne, bis der Apparat zu tönen beginnt wie eine singende Säge. Ein Aetherophon. Wird ohne jede Berührung gespielt. Allein die Stellung der Hände wirkt auf ein elektromagnetisches Feld, dessen Schwingungen verstärkt und in Töne umgewandelt werden. Sie schmeißt den Koffer zu. Draußen spielt die erste Vorband, und sie ist jetzt nicht in Stimmung, fremde Musik zu spüren. Sie flüchtet ins Hotel.

Evelyn war 16, als in einer schottischen Zeitung der erste Artikel erschien, der sie als Ausnahme-Talent feierte. Die Überschrift lautete: »Unglaubliche Evelyn: Taub – aber macht Musik!« Stolz legten ihre Eltern das Lob in einem Archiv ab, das rasch anschwoll: Journalisten stürzten sich auf die Story. Sie saßen einer Unschärfe auf, die Evelyn von nun an begleiten sollte.

Das Gehör funktioniert nicht wie ein Lichtschalter, an, aus. Viele Menschen, die gemeinhin als taub bezeichnet werden, sind nach den strengen Maßstäben der Medizin schwerhörig: Sie besitzen nach wie vor Hörsinn – allerdings extrem eingeschränkt. Manche hören nur mehr ganz laute Töne. Manche nur mehr ganz tiefe. Vollkommen taub sind wenige. Aber nun war das Etikett in der Welt: Evelyn Glennie, das taube Wunderkind.

Eine Eigenart des Englischen sorgte dafür, dass diese Unschärfe haften blieb, egal wie häufig Evelyn sich erklärte. Während der Hörverlust eines Menschen auf Deutsch mit Wörtern wie schwerhörig, taub und gehörlos abgestuft werden kann, vereint Englisch diese Aussagen in einem Ausdruck – deaf.

Evelyn war entgeistert. Ausnahme-Talent, das gefiel ihr. Aber nur aufgrund ihrer Ohren? Das Medieninteresse erwischte sie in einer Zeit des Zweifelns. Sie spürte Töne ihrer Trommeln sicher. Aber sonst kämpfte sie noch um ihre alte Art des Hörens, zwang sich, Sinn in Geräuschen zu finden, die nur Überreste früherer Stärke waren. Das Klingeln des Telefons, einst ein raumfüllendes Läuten, war zu einem Knistern versiegt. Schnellstraßen rang sie ein Summen ab. Sie quälte sich um jeden Laut.

Je verbissener sie jedoch zu hören versuchte, desto erschöpfter blieb sie zurück. Allein ihre Stunden am Schlagzeug hielten sie aufrecht. Wenn sie niedergeschmettert war, floh sie in die Sphäre der Wahrnehmung, die Forbes ihr eröffnet hatte. In ihrem Tagebuch hielt sie fest: »Fühle einen anderen Weg, Musik zu hören.« Sie war inzwischen so gut, dass sie mit dem Schottischen Jugendorchester spielte. Eines Tages, am Ende der Schulzeit, legte sie ihre Hörgeräte endgültig ab.

Zwei Stunden vor Konzertbeginn ist sie zurück. Sie tritt vor die Bühne, ein Blick über die Ränge, dann läuft sie den Auftrittsort ab. Macht sie immer, egal wo sie auftritt: Sie spürt der Akustik nach. Einmal rührte sie in der New Yorker Central Station die Trommel, sie und ihre Snare Drum gegen diese gigantische Halle. War scharf und satt, der Hall dort. Kirchen klingen klamm. Auf Hochhäusern schluckt der Himmel den Schall, die Leere alter Fabrikhallen lässt ihn auslaufen wie eine Welle. Wie ist es hier? »Knochentrocken«, sagt sie. Sie spielt heute in einem Zirkuszelt, ausgerechnet. Ihr Gönner hat im Zirkus angefangen. Als Taktgeber für Tanzelefanten.

James Blades hatte den Aufstieg des Talents aus Aberdeen von Ferne beobachtet. Blades, Jahrgang 1901, lebte in London, ein pensionierter Professor der Royal Academy for Music. Einst, als junger Musiker, war er vom Zirkus in die ersten Kinos gewechselt, um Stummfilme zu begleiten – jedes Gewitter, jeder Schuss war sein Werk. Als Töne auf Band auftauchten, warben ihn Symphonie-Orchester an: Blades schien nicht nach Noten zu spielen, sondern in Gefühlen. 1940 bat ihn die BBC, eines zu vertonen. Sie wollten wissen, wie »siegessicher« klingt. Blades wählte eine Bechertrommel aus Afrika, dämpfte sie mit seinem Taschentuch und schlug vier Mal schwer auf ihr Fell: Da-Da-Da-Daaa – der Morse-Code für V wie Victory. Unter diesem Rufzeichen sendete die BBC bis zum Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Blades war eine Legende unter Schlagzeugern. Nun glaubte er, eine Nachfolgerin gefunden zu haben.

Er lud Evelyn nach London ein, um sie auf die Probe zu stellen. Er forderte sie an Marschtrommel, Pauken, Marimba. Am Ende spielten der alte Mann und das junge Mädchen ein Duett – Rücken an Rücken, weil er prüfen wollte, ob sie den Takt genauso straff hielt, wenn sie ihn nicht mehr sah. Danach war er sicher. Er rüstete Evelyn mit neuen Noten, schickte einen Satz Orchester-Schlagwerk nach Schottland und schwor sie darauf ein, es auf der Akademie zu versuchen.

Als Evelyn sich dort bewarb, bekam sie die knappe Antwort, bitte mitzuteilen, inwieweit ihr Gehörleiden ihre Musik beeinflusse. Unter den Professoren war Streit ausgebrochen: Was wollte die Akademie mit einer Behinderten? Sollte man so ein extrem schwerhöriges Mädchen vorspielen lassen? Die Fraktion, die ihr diese Chance geben wollte, setzte sich nur knapp durch. Evelyn probte über Wochen. Dann fuhr sie nach London. Sie startete auf der Marimba, die aufpeitschende Stampede der Ouvertüre aus Rossinis Wilhelm Tell, jagte die Pflichtstücke durch und schloss mit einem Solo für Carillon, das die Klangwelt dieser Turmglockenspiele durchmaß – allerdings auf dem Xylophon. Keine Reaktion. Man lud sie abermals vor. Erst dann las sie es von den Lippen. Sie war drin.

Eine Stunde noch. Bühnenarbeiter rollen einen Konzertflügel durch die Kulisse, das letzte Instrument, nach dem Evelyn noch verlangte. Sie will auf seinem Inneren trommeln. Auf den Stahlsaiten, auf dem Resonanzboden. Der Klavierstimmer starrt sie an wie ein Gespenst. Das Festival von Moers ist eine berühmte Bühne für die improvisierte Musik des Free Jazz, er ist einiges gewöhnt – aber mit Schlagzeugstöcken auf einen Flügel losgehen? Evelyn bleibt unbeirrt. Sie hat die Maßstäbe des Musikgeschäfts schon lange hinter sich gelassen.

1989, nur vier Jahre, nachdem Glennie die Akademie mit Auszeichnung verlassen hatte, gewann sie einen Grammy. Sie war 24. Sie hatte Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug eingespielt; eine Darbietung, die unerhört daherkam. Studenten der Musik schulen ihr Verständnis der Klassiker auf zwei Arten, anhand der Noten – und am Klang: Im Schallarchiv erhören sie sich die Dimensionen, die bisherige Interpreten einem Stück verliehen haben. Glennie war nie im Schallarchiv gewesen. Sie konnte Aufnahmen nur spüren, wenn sie sich einen Lautsprecher zwischen die Schenkel klemmte. Klangfarben erschloss sie sich vom Notenblatt. So blieb sie frei vom Tonfall früherer Interpretationen, die auf das Spiel anderer Musiker abfärbten. Die Kritiker überschlugen sich.

Evelyn Glennie war 27, als sie öffentlich mit der Ordnung des klassischen Orchesters brach. Sie trat als Solistin an, ein Kammerkonzert, Royal Albert Hall, London. Sie verbeugte sich, im Rücken sämtliche Instrumente, die sie spielen würde – eine Front aus 15 Trommeln mit Fellen, neun Schlitztrommeln aus Holz, sechs Gongs, einer Batterie Becken, einer Marimba, einem Windspiel und zwei Kuhglocken. Hinter diesem Dickicht saßen, wie Dekoration, die Streicher und Bläser. Wer Klassik verehrte, wollte diese Trommel-Tussi kreuzigen. Wer an eine Moderne dieser Musik glaubte, war sicher, die Uraufführung eines künftigen Klassikers zu erleben: Veni, Veni, Emmanuel von James MacMillan, eigens für Evelyn komponiert. Es war eine Sensation. Eine extrem schwerhörige Frau schafft es, das Schlagzeug in der Klassik als eigenständiges Instrument zu etablieren. Glennie war nun ein Star. Sie fragte sich allerdings, warum sie trotz dieser Leistung ständig nur eine Frage gestellt bekam: »Wie hören Sie nur, was Sie spielen?«

Halbe Stunde noch. Sie hat diese Frage kommen sehen. Früher setzte sie Journalisten, die sie damit nervten, vor die Tür. Später antwortete sie stets mit einer Gegenfrage: Wie hören Sie denn? Sie erntete Schweigen. Nur wenige Menschen, deren Gehör wohlauf ist, schenken diesem Sinn Achtung. Sie riet dann, bei Sturm an den Strand zu gehen: Hören wir das Donnern der Brandung nur oder spüren wir es auch? Jetzt aber führt sie die Rampe zur Bühne hinauf; draußen, auf der anderen Seite des Vorhangs, spielt noch eine andere Band. Sie befiehlt, die Hände auf die Bühnenbretter zu legen. Nichts. »Nichts?«, fragt sie. Da ist nur Zittern. Dann spielt die Band lauter, ein Schwingen, das schroffer wird, bis das Beben in den Brettern die Lautstärke draußen vorwegnimmt. Die Musik pulst. Glennie lacht. Das ist ihre Welt.

Mit den Erfolgen wurde Evelyn Glennies Musik radikaler. Sie begann auf Nadelgeigen und Meeresharfen zu spielen, vergessene Instrumente, deren Klänge sie schön spürte. Sie betrat die Bühne mit einem Maler, der in Farben tauchte, was sie trommelte. Sie improvisierte vor Kunstschmieden auf abstrakten Skulpturen. Für Klassikfans war eine Grenze erreicht, als sie für ein Konzert auf einer kompletten Küche spielte: Percussion mit Töpfen, Pfannen, Suppenkellen – während sie im Takt einen Kuchen buk. Glennie stehe in Gefahr, zum Klassen-Clown der klassischen Musik zu verkommen, hieß es.

Sie hörte nicht auf die Kritik. Sie nannte sich nun Klang-Schöpferin. Sie riss aus der starren Struktur der Noten aus, wo sie nur konnte, um in improvisierten Solos das Gehör ihrer Zuhörer zu necken. Auf der Marimba, ihrem Paradeinstrument, spielte sie dann immer leiser und leiser, bis die Töne wie in Stille zu schweben schienen. Der Trick war, dass sie am Ende gar nicht mehr spielte. Sie wirbelte nur ihre Schlägel über die Marimba, berührte sie aber nicht. Was das Publikum dann vernahm, waren Töne seiner Imagination. Auch das war nach ihrer Auffassung Musik. Man musste sie nur zu hören verstehen.

Ihr Herz schlug für Herausforderungen, die das herkömmliche Hören in Frage stellten. Sie war 36, als sie mit Béla Fleck, einer Legende des Jazz, Stücke von Bach und Brahms einspielte. Er auf dem Banjo. Sie auf der Marimba. Das Album gewann einen Grammy. Glennie spielte mit japanischen Kodo-Trommlern, entwickelte eigene Instrumente, unterrichtete. In ihrem Büro hingen damals drei Uhren, die rechte zeigte die Zeit New Yorks, die linke die Londons, die in der Mitte trug die Ortsmarke »Evelyn« und tickte, wie es Glennie gerade gefiel.

2003 druckten englische Boulevard-Medien E-Mails, die eine Affäre Glennies mit dem Dirigenten Leonard Slatkin offenlegten. Es waren intime Bekenntnisse, Evelyns Ehemann reichte die Scheidung ein, am Ende stand sie als Schlampe da, die Dirigenten angräbt. Inmitten dieses Sturms kam das Angebot, eine Platte aufzunehmen, mit einem Altmeister der Avantgarde: Fred Frith – ein Gitarrist, der Musik als Verheißung begriff, die nach Noten nicht einzulösen ist. Sie spielten in einer verlassenen Fabrik, Stunden der Improvisation, die zum Kern des Dokumentarfilms Touch the Sound wurde, einer Meditation über die Welt der Klänge. Die Jahre jagten dahin, 15 Ehrendoktorwürden später, nach Tausenden Konzerten und 160 für sie verfassten Kompositionen, erhob die Queen Glennie in den Ritterstand. Sie hatte alles erreicht. Aber in der Zeitung stand, ihr Auftreten wirke so angespannt wie die Felle ihrer Trommeln.

Fünf Minuten noch. Sie geht auf und ab, den Blick nach innen gekehrt. Sie werden sie gleich auf die Bühne rufen, und dann wird da nur noch Musik sein. Wann immer ihr Leben kompliziert wurde, hat sie sich in Klänge geflüchtet. Sie teilt den Vorhang und tritt hinaus.

Der Augenblick, an dem sie ihr Leben in Frage stellte, kam plötzlich. Sie lässt offen, ob es vor Monaten war oder vor Jahren. Sie, die alles gemacht hatte, und das ständig, fühlte sich leer. Sie setzte sich vor ihren Terminkalender und begann zu streichen. Ab sofort nur noch, was ihr wichtig war, das aber mit aller Kraft.

Sie stößt in ihr Nebelhorn. Das Zirkuszelt liegt im Dunkeln, sie stiebt im Zwielicht von Instrument zu Instrument. Ein seltsamer Sound. Alles improvisiert. Nichts vertraut. Aber dennoch nicht fremd. Im Publikum blicken die Menschen, als würden sie gleichzeitig gestreichelt und geohrfeigt. Dann, jählings, ist es vorbei.

Sie sitzt in ihrer Garderobe, erschöpft, glücklich. Hat sie jemals darüber nachgedacht, wie ihre Karriere verlaufen wäre, wenn ihr Gehör nicht versiegt wäre? Sie lächelt gequält.»So wie Sie mich jetzt kennen«, fragt sie: »Was meinen Sie?«

Fotos: Philipp Ebeling, Thomas Rabsch