Wenn Joel Bird ein Bad nimmt, kann er die Felder sehen. Dahinter die Hochhäuser und ein bisschen Himmel über London. Seit 15 Jahren lebt der Künstler aus Liverpool in Europas größter Stadt. Und seit 15 Jahren hört sie nicht auf zu wachsen. Hier ist nicht mehr viel Platz für Menschen wie Bird: Menschen mit vielen Ideen und wenig Geld. Etwa 1500 Euro kostet eine Einzimmerwohnung mittlerweile pro Monat, im Westen Londons auch mal das Dreifache. Bird ist Musiker und Maler. Er braucht ein Studio. Er braucht die Stadt. Also braucht er eine Idee für wenig Geld.
Und die hatte er. Vor fünf Jahren baute er neben Feldern in Tottenham ein Gartenhaus auf seinem Grundstück, das auf 15 Quadratmetern Platz hat für alles: sein Atelier, sein Tonstudio und den Dachgarten mit Badewanne. Wie ein Piratenschiff ragt die Hütte ins Feld. Sie hat große Fenster und eine Holzleiter, die aufs Dach führt. »Die Sparversion von meinem Traumhaus«, sagt er. Hier oben ist er im Sommer am liebsten, sitzt in der Wanne zwischen Lauch und roter Beete und schaut der Stadt beim Wachsen zu.
Gleichzeitig wächst in seinem Kopf ein Geschäftsmodell. Seine Laube baute Bird für ein paar hundert Pfund. Wie das geht? Kein Problem, Bird hat früher auf dem Bau gearbeitet. Für sein Gartenhaus fällte er Bäume im Park, sammelte alte Zaunlatten, kaufte einige Solarpaneele bei Ebay, dazu ein paar Autobatterien. Alte Fenster und Türen hatte er vom Umbau seines Hauses übrig. Dazu legte er einen Garten auf dem Dach an und ein Bewässerungssystem. Regenwasser versorgte nun die Beete und sickerte durch die Pflanzen an der Wand in Richtung Erde. Wenn Bird im Atelier malt, wärmt ihn im Winter ein alter Holzofen. Solarenergie versorgt ihn mit Strom, oder die zwei Autobatterien, wenn der englische Himmel mal wieder Grau trägt. Nur für sein Tonstudio zapft Bird zusätzlich Strom von seinem Haus.
Hier ist er frei. Für ein Gartenhaus von 15 Quadratmetern braucht er keine Baugenehmigung. Die Idee passt: in den Garten, in die Stadt, in die Zeit. Auf den Feldern und Beeten neben Birds Gartenhaus jäten am Wochenende Großstädter ihr Unkraut. Sie haben Sehnsucht nach ein bisschen mehr Freiheit, ein bisschen mehr Grün. Das wünschen sich viele in der Stadt, auch Menschen aus New York, Paris oder Tokio wollen ein bisschen Kohl auf der Dachterrasse, Gemüse pflanzen, Grün gegen Grau tauschen. »Urban Gardening« ist ein weltweiter Trend. Investmentbanker, Agenturchefs und junge Familien pilgern sonntags nach Tottenham, sprenkeln den Rasen und nehmen ein bisschen Schnittlauch mit nach Hause. Hinter den Feldern rauscht die Schnellstraße.
Tottenham, das ist kein Stadtteil Londons, in dem man nachts gern allein spazieren geht. Für die Beete verteilt die Stadt trotzdem eine Warteliste: Wer gern seinen eigenen Rasen mähen will, muss erst mal fünf Jahre warten. Ein paar Hobbygärtner schauen manchmal über die Gießkanne nach oben zu Bird, der im Sommer auf dem Dach sitzt und seine Tomaten grillt. »Woanders hätte ich mir mein Haus nicht leisten können«, sagt er.
Im vergangenen Sommer wurde es eng in Birds Garten. Es war ein warmer Sommer, in den Beeten warteten Blaubeeren auf die Ernte, die Tomaten waren saftig und süß. Ein Fernsehteam mit Kran quetschte sich auf den schlauchförmigen Rasen hinter Birds Haus und filmte ihn dabei, wie er von Beet zu Beet deutete und erzählte, wie wenig er einkaufen muss, seitdem die Dinge hier einfach wachsen. Das Team filmte, wie er in seinem Atelier an der Staffelei saß und dann in der Badewanne ein Buch las. Beim Wettbewerb des britischen TV-Senders Channel 4 gewann er den Preis der »Shed of the Year«, der Hütte des Jahres. Gartenhäuser haben Tradition in einem Land, dass für sein fein geschnittenes Gras bekannt ist. Kleingärtner verwandeln die paar Meter hinter ihrem Haus in so ziemlich alles: Heimkinos, Fahrradwerkstätten, eine Disco oder einen Pub. Eher netter Hobby- als nachhaltiger Lebensraum. Auch wenn in London ein paar Grüne Dächer blühen: Ein Öko-Gartenhaus in der Großstadt war neu.
Plötzlich bekam Joel Bird E-Mails aus der ganzen Welt. Wie er das mit der Hütte gemacht hat, fragten ihn Menschen aus China, Australien und den USA. Ein paar Quadratmeter Platz für seine Ideen hätte man auch hier. Bird bekam einen neuen Vollzeitjob: Hüttenbauer. Voriges Jahr baute er über ein Dutzend Gartenhäuser in London und Umgebung: ein Tonstudio mit Grasdach, das gleichzeitig Klänge isoliert, ein lichtdurchflutetes Atelier für einen Maler, eine Schreibwerkstatt für eine Kinderbuchautorin aus alten Schiffsplanken. Knapp zwei Wochen arbeitet Bird an den Häusern, die ab 3000 Euro kosten. Manchmal helfen seine Kunden mit. Seine nachhaltigen Hütten sind nicht nur kreativer und schöner, sondern oft zudem günstiger als Gartenhäuser großer Baumärkte – und er bietet kein Baukastensystem, er ist auf Sonderwünsche spezialisiert: »Ich finde es toll, wenn die Leute merkwürdige Ideen haben.«
Merkwürdige Ideen haben fast alle: reiche Londoner, die ihrer Tochter hinter dem Haus einen Raum für Tee-Partys einrichten wollen; Eltern, die einen mobilen Spielplatz für ihre Kinder suchen; Jungunternehmer, die ein Büro brauchen und gleichzeitig ein Bett, wenn die Eltern zu Besuch kommen. Ideen, die in der Großstadt entstehen. Bird ist stolz, dass er Menschen helfen kann, ihre Träume zu erfüllen und ihr Leben in London ein bisschen einfacher zu machen. Etwa Hobbyräume für Männer in der Midlifecrisis, auch das sei in Ordnung, sagt er. Er wolle nicht philosophisch werden, sagt er, aber er glaube »dass jeder Mensch ein bisschen Platz für sich das braucht«.
Deswegen schreibt er ein Buch, eine Bauanleitung für alle, deren Gärten weit weg sind von Tottenham. »Um kreativ zu sein braucht man nicht viel Platz«, sagt er. Ob man sich auf 15 Quadratmetern manchmal beengt fühlt? »Viel Platz schafft auch viel Unordnung. Und Unordnung behindert die Kreativität.« Ihm macht es Spaß, jede Ecke seiner Lauben optimal ausnutzen.
Der 39-Jährige steht am Herd seines Hauses in Tottenham und kocht ein Omelett, im Sommer wäre darin Gemüse aus dem Garten. Er trägt Hochwasserhosen mit Hosenträgern und eine Schirmmütze auf dem kahl werdenden Kopf und sagt: »Es ist schon ein bisschen wie auf dem Land hier.« Und doch will er nicht aufs Land ziehen, wo es viel mehr Platz für deutlich weniger Geld geben würde. Einmal die Woche geht er zum Swing-Dance, dafür etwa braucht und liebt er London.
Er hat Glück gehabt, sagt er. Als er vor fast zwanzig Jahren nach London kam, lebte er in einem Zimmer mit Gemeinschaftsbad in East London und sammelte Pfund-Münzen für den Stromgenerator. Vielleicht lernte er damals, wie viel die Dinge wert sind. Ein paar Meter von seinem alten Haus entfernt gibt es heute vegane Burger für 15 Pfund. Seine Heimat wurde vom Arbeiter- zum Szeneviertel.
Seine zweijährige Tochter lässt ein Plastikauto über den Boden sausen. Ob er sich Sorgen macht darüber, wie sie einmal wohnen wird? »Ich weiß nicht, wie es in ein paar Jahren aussieht«, sagt er, »aber ich möchte, dass sie weiß, dass es Alternativen zum Bürojob gibt.« Er wird auch ihr ein Gartenhaus bauen: »Wenn es sein muss in pink.«