Am Morgen nach seiner Wiederwahl zum Bürgermeister von London machte sich Boris Johnson zum Joggen auf. Er sah aus, als hätte er sich im Dunkeln angezogen. Seine Socken passten nicht zusammen, über seinem T-Shirt mit dem Slogan »Love London« trug er eine pilzfarbene Fleecejacke, aber am unglaublichsten waren seine Seiden-Shorts: marineblau mit neonpinkfarbenem Bund und einem chinesischen Drachen auf der Vorderseite. Ganz offensichtlich hatte er das Teil verkehrt herum angezogen. Das groteske Outfit war ein klassischer Boris Johnson – selbstvergessen, schlampig, aber gut gelaunt und unwiderstehlich komisch. Für solche Auftritte liebt ihn die britische Öffentlichkeit.
Wenn am 27. Juli die Olympischen Sommerspiele eröffnet werden, wird die ganze Welt auf London blicken. Doch als Bürgermeister von Europas größter Stadt hat sich Boris – er ist der einzige Politiker im Königreich, den jeder beim Vornamen nennt – längst verewigt. Er hat sich eine neue Version der legendären Doppeldecker-Busse ausgedacht (den »Boris Bus«), die chronisch verstopfte Stadt mit Leihfahrrädern versorgt (den »Boris Bikes«) und denkt darüber nach, den überlasteten Flughafen von Heathrow durch einen neuen zu ersetzen, für den er in der Themse eine Insel aufschütten lassen will (»Boris Island«). Seine Wiederwahl hat ihn zum beliebtesten Konservativen Großbritanniens gemacht, und bei den Buchmachern gilt er als wahrscheinlichster Nachfolger des derzeitigen Premierministers David Cameron.
Der Grund für seinen Erfolg liegt aber weniger in seinen Taten als in seinem Charakter. Andrew Gimson, einer von Johnsons Biografen, meint: »Johnson hat eine Begabung, die man in der Politik kaum je antrifft: Er macht den Menschen bessere Laune. Selbst Leute, die ihn nicht gewählt haben, fangen an zu lächeln, wenn sie ihn sehen.«
Der 48-Jährige ist berühmt für erfrischend witzige Statements. Für seine Partei warb er mit dem Versprechen: »Wenn Sie die Konservativen wählen, bekommt Ihre Frau größere Brüste und Sie haben bessere Chancen auf einen BMW M3.« Auf die Frage, ob er je Drogen genommen habe, antwortete er: »Man hat mich einmal Kokain probieren lassen, aber während des Schnupfens musste ich niesen, deswegen ging nichts die Nase hoch. Kann gut sein, dass es sowieso Puderzucker war.«
Dank seines unübersehbaren Blondschopfs kann sich Johnson nicht durch London bewegen, ohne auf Schritt und Tritt von Menschen belagert zu werden. Seine Mitarbeiter erzählen, dass sie immer 15 Extraminuten in seinen Terminplan einbauen, weil ihn so viele Leute auf der Straße ansprechen.
Anfang des Jahres habe ich ihn bei Wahlkampfauftritten begleitet und miterlebt, wie er die Menschen für sich gewinnt: Im Westlondoner Vorort Chiswick hält ihm ein Mann ein Buch zum Signieren unter die Nase – die Autobiografie seines Labour-Konkurrenten Ken Livingstone. Johnson stutzt kurz und schreibt dann: »Dieses Buch ist kompletter Mist, Ihr Boris Johnson.« Der Labour-Anhänger lacht schallend.
Ken Livingstone selbst ist wahrscheinlich der Einzige, der sich nicht über seinen Nachfolger amüsieren kann. »Labour-Wähler sagen, dass sie für ihn stimmen, weil er sie zum Lachen bringt«, erzählt er. »Boris Johnson ist jemand, der ungefähr mit zehn herausgefunden hat, dass man sogar mit einen Mord davonkommen kann, wenn man diesen strubbeligen Knuddel-Charme kultiviert.«
»Ach du liebe Scheiße, Boris, was machst du denn hier?«
Später am Tag stürzt im Zug ein Geschäftsmann auf Johnson zu. Es sei verrückt, strahlt er, aber gerade habe er auf seinem iPad einen Podcast mit ihm gehört, und schon sei der Bürgermeister da. Es handelte sich dabei um eine Radiosendung mit Johnsons Lieblingsmusik, eine für ihn sehr charakteristische Mischung: Here Comes The Sun von den Beatles (optimistisch), Start Me Up von den Rolling Stones (sexy) und Bachs Matthäus-Passion (kultiviert). Sein absolutes Lieblingsstück, sagt Johnson, sei aber Beethovens Fünfte: »Sehr, sehr gut, wenn man eine Autobahn entlangrast.«
Ungewöhnlich an ihm ist auch sein lockerer Umgang mit einer speziell britischen Obsession – der Klassenfrage. Während die meisten Politiker ihre privilegierte Herkunft herunterzuspielen versuchen, versteckt Johnson seine adelige Abstammung nicht – und ist dennoch bei der Arbeiterklasse beliebt. Als er sich einmal mit einem TV-Team bei einer Drogenrazzia blicken ließ, begrüßte ihn der überraschte Verdächtige mit dem unsterblichen Satz: »Ach du liebe Scheiße, Boris, was machst du denn hier?«
Zum Ende des Wahlkampftages absolviert Boris noch ein Fotoshooting. Alles bestens, bis er unvermutet unterbricht, um seine Brieftasche aus dem Jackett zu ziehen. Erst danach darf der Fotograf weitermachen. »So sehe ich weniger fett aus«, sagt er, »alter Trick. Und meine Brieftasche ist nun mal wirklich fett …«
Danach erklärt er, was seiner Meinung nach die Gründe für seine Beliebtheit seien: Nicht die kessen Sprüche, sondern dass er Bürokratie abgebaut, bei der Polizei keine Personalkürzungen gemacht und Milliarden für eine neue Bahnverbindung aufgetan habe. Er wolle den Ärmsten helfen und die Londoner nach den Krawallen im letzten Jahr wieder einigen. »Wir leben in harten Zeiten, es geht um ernste Dinge, und deswegen bin auch ich sehr ernsthaft.« Doch weil Johnson nicht aus seiner Haut kann, macht er noch einen Scherz und beginnt Schillers Sentenz »Ernst ist das Leben« zu zitieren, um in Gelächter über seine drollige deutsche Aussprache zu verfallen und nach der Hälfte aus dem Satz auszusteigen, der ja mit »heiter die Kunst« endet.
Für einen offenkundig typischen Oberklasse-Engländer hat Alexander Boris de Pfeffel Johnson einen überraschenden ethnischen Hintergrund. 1964 in New York geboren, witzelt er, er sei wie Supermarkthonig »ein Produkt aus vielen Stöcken«. Als er für eine Fernsehsendung der BBC seine familiären Wurzeln erkundete, erfuhr man, dass auch türkische Muslime und deutsche Aristokraten zu seinen Vorfahren gehören.
Johnson besuchte das Elite-Internat Eton, anschließend die Oxford University. An der Uni begann seine politische Laufbahn, als Präsident der legendären (und bestens vernetzten) Oxford Union Debating Society; zur gleichen Zeit begann seine Karriere als notorischer Fremdgänger. Seine erste Frau Allegra hatte er an der Uni kennengelernt und ein Jahr später geheiratet (um den Ehering in typischer Boris-Manier eine Stunde nach der Zeremonie zu verschusseln), doch schon nach ein paar Monaten hatte er eine so ernsthafte Affäre, dass er Allegra eines Tages aus heiterem Himmel um eine »schnelle Scheidung« bat. »Ich fragte, ob die andere schwanger sei«, erinnert sich Allegra: »Er sagte: ›Ja. Wie hast du das herausgefunden?‹« Seine Geliebte Marina wurde bald seine zweite Frau, zusammen bekamen die beiden vier Kinder.
Nach dem Studium arbeitete Johnson einige Jahre als Journalist, 2001 wurde er zum ersten Mal ins Parlament gewählt. Doch statt sich im Unterhaus hervorzutun, trat er lieber in TV-Comedy-Sendungen auf oder als Fahrzeugtester im Automagazin Top Gear. Nebenbei wurde er Herausgeber des konservativen Politmagazins The Spectator, das wegen Johnsons Hang zu schlüpfrigen Geschichten bald »The Sextator« genannt wurde. 2004 geriet sein politischer Aufstieg ins Stocken, nachdem er Michael Howard, den damaligen Vorsitzenden der Konservativen, über seine außereheliche Affäre mit der New Yorker Korrespondentin des Spectator belogen hatte.
»Meine Chancen, Premierminister zu werden, sind ungefähr so groß wie jene, Elvis auf dem Mars zu finden. «
2008 dann die große Überraschung: Johnson schlug Ken Livingstone und wurde Bürgermeister der traditionell eher von der Labour-Partei regierten britischen Hauptstadt. Einer der Gründe für seinen Erfolg war der Vorsprung bei den Frauen, die ihn für seinen ansteckenden Optimismus lieben. Oder wie er selbst es ausdrückt: »Männer, die Frauen lieben, werden von Frauen geliebt.« Seine Biografin Sonia Purnell fügt an: »Manche Männer sind für Boris’ Charme ebenso empfänglich wie Frauen, weil er die Sorte Leben führt, von der sie nur träumen.«
Dazu gehören weiterhin seine Affären. Im vergangenen Jahr setzte ihn seine Frau Marina wie eine »streunende Katze« vor die Tür, nachdem eine Geliebte Johnsons fünftes Kind geboren hatte. Dass ihm seine Eskapaden bisher politisch kaum geschadet haben, liegt dabei vor allem daran, dass Johnson nie den Versuch unternommen hat, die Menschen über Moral zu belehren. Seine Antwort auf die Frage, ob er jemals Sex mit einem Mann gehabt hätte: »Bis jetzt noch nicht.«
Johnson scheint zu wissen, dass sein politischer Erfolg vor allem davon abhängt, wie sehr es ihm gelingt, das Wahlvolk zu verführen. Bei einem Strategietreffen Anfang des Jahres habe er gesagt: »Die Öffentlichkeit will umworben werden. Der einzige Spaß, den sie hat, besteht darin, dass ein Politiker alle vier Jahre vor ihr herumkriechen muss. Sie will, dass er sich richtig ins Zeug legt.« So erzählt es jedenfalls einer seiner engsten Berater.
Dieses Verständnis des politischen Geschäfts hat Johnson beliebter als David Cameron gemacht, und es gibt nicht wenige, die ihm zutrauen, den Premierminister zu beerben. Johnson selbst spielt seine Aussichten, je in Downing Street Nummer 10 einzuziehen, noch nach Kräften herunter. »Meine Chancen, Premierminister zu werden, sind ungefähr so groß wie jene, Elvis auf dem Mars zu finden. Oder dass ich als Olive wiedergeboren werde.« Niemand glaubt ihm.
Weil Johnson in Amerika geboren wurde, witzeln seine Freunde, könne er eines Tages sogar als US-Präsident kandidieren. Als Barack Obama Großbritannien besuchte, war auch Johnson beim Staatsbankett zu Gast. »Würden Sie mir bitte einen Scheck über fünf Millionen Dollar ausstellen?«, fragte Johnson den verblüfften US-Präsidenten – eine Anspielung auf die Tatsache, dass sich die US-Botschaft weigert, für ihre Diplomaten-Fahrzeuge die in London übliche Maut zu bezahlen.
Während seines Wahlkampfs hatte Johnson sich bemüht, seine Witzeleien ein wenig im Zaum zu halten, doch schon zur Bootsprozession auf der Themse zu Ehren des 60. Thronjubiläums der Queen war er wieder in bestechender Form. Johnson kommentierte das Spektakel im Londoner Nieselregen mit dem trockenen Satz: »Wie Dünkirchen, nur etwas spaßiger.«
Sein nächster großer Auftritt wird in ein paar Tagen sein, wenn die Olympischen Spiele eröffnet werden. Niemand scheint dafür geeigneter als Johnson. Als er vor vier Jahren bei der Schlusszeremonie vom würdig dreinblickenden Pekinger Bürgermeister das Olympische Banner bekam, schwenkte er es sogleich wie ein Krieger unter Aufputschmitteln. Die chinesische Öffentlichkeit war konsterniert über Johnsons Auftritt. Er hatte es nicht einmal geschafft, das Jackett über seinem mächtigen Bauch zuzuknöpfen, obwohl ihn ein Offizieller im Stadion auf den Etikettefehler aufmerksam gemacht hatte: »Zuerst griff ich instinktiv nach dem Knopf«, erzählte er später, »aber dann dachte ich: Ihr könnt mich alle mal.«
Fotos: afp, dpa, getty
Übersetzung: Peter Praschl