Im »L’ Atmosphère« werden an diesem Abend melancholische Chansons gespielt, auf der Speisekarte des französischen Restaurants stehen Froschschenkel und Weine. Alles aus Frankreich. Nur die Teppiche an den Wänden und die khakifarbenen Hemden einiger Besucher lassen vermuten, dass wir uns nicht in Frankreich befinden. Eher in einer ehemaligen französischen Kolonie – in Vietnam oder Westafrika.
Es herrscht eine Atmosphäre kolonialen Wohlbehagens, einer gewissen Dekadenz – die Sicherheit, auch in der Ferne nicht auf das Gewohnte verzichten zu müssen, das Gefühl der zivilisatorischen Überlegenheit. Das Restaurant befindet sich nun aber nicht in einer früheren französischen Kolonie, es liegt in einem neueren Stadtviertel Kabuls. Deutschen Diplomaten wird geraten, die Gaststätte zu meiden. Sie gilt als ein Sicherheitsrisiko.
Immer wieder hat es Drohungen gegen den Betreiber und die Gäste gegeben. Es ist daher nicht einfach, aus der gefährlichen Wirklichkeit Kabuls in die unwirkliche Atmosphäre eines Clubs zu gelangen, der an längst vergangene Kolonialzeiten erinnert. Vor der Beschwörung der Kulisse steht die brutale Härte der afghanischen Gegenwart: Am verbarrikadierten Eingang des Restaurants sitzen afghanische Wachen auf Plastikstühlen, sie lassen die Besucher in eine Art Schleuse treten. Dann schließen sie die eine Tür, eine Wache klopft an die gegenüberliegende Tür, die von innen geöffnet wird. Ein schwer bewaffneter Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes bat mich, meine Waffe abzugeben. Ich habe keine, er tastete mich misstrauisch ab, ich wurde eingelassen. Afghanen haben keinen Zutritt – es sei denn, sie besitzen einen ausländischen Pass. Im Garten gibt es einen Swimmingpool, und in der warmen Jahreszeit sonnen sich dort die Frauen westlicher Diplomaten. Wenn es den »Kampf der Kulturen« wirklich gibt, dann wird er hier sichtbar, im »L’ Atmosphère«, wo ich meinen ersten Abend in Kabul verbringe.
Sympathie mit den Taliban
Meine Reise nach Afghanistan fällt in eine Zeit des Übergangs: Die Taliban haben eine Offensive angekündigt, die US-Truppen wurden seit April mit 17 000 zusätzlichen Soldaten und 4000 Ausbildern für die afghanische Polizei und Armee vergrößert. Es ist jetzt Präsident Obamas Krieg. Im Sommer finden in Afghanistan Präsidentschaftswahlen statt – ob sie erfolgreich durchgeführt werden können, ist jedoch ungewiss. Denn Präsidentschaftswahlen, deren Ergebnis überwiegend akzeptiert wird, setzen voraus, dass in allen Teilen des Landes gewählt werden kann. Doch im Süden und Südosten des Landes herrscht ein erbitterter Krieg.
Die Regierung in Kabul kontrolliert große Teile dieser Provinzen nicht, die Aufständischen haben sich dort eingegraben, Zentren für ihre Operationen errichtet und liefern der afghanischen Armee und den Truppen der dort kämpfenden NATO-Staaten heftige Gefechte. Beobachter schätzen, dass für ein Viertel der Bevölkerung die Teilnahme an der Wahl gefährdet ist. Und die Kämpfe rücken immer näher an Kabul heran. Viele Gebiete um die Hauptstadt werden bereits von den Taliban kontrolliert, viele der paschtunischen Stämme unterstützen deren Aufstand.
Die Nachrichtenkanäle informieren kaum noch aus erster Hand über die umkämpften Regionen. Dabei entscheidet sich dort die Zukunft des ganzen Landes. Was bewegt die Menschen, was denken die lokalen Stammesfürsten? Wie stehen sie zu den Taliban, zur Regierung Karsai in Kabul, zum Einsatz der westlichen Soldaten? Afghanische Freunde raten mir, nach Paktia zu fahren, um das herauszufinden. Vor einigen Jahren noch war die Provinz ruhig, jetzt fährt fast kein Ausländer dorthin. Die Straßen gelten als unsicher.
Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich geändert – mehr oder weniger, so heißt es, sympathisiert sie nun mit den Taliban. Nach meiner Rückkehr aus Paktia will ich über Kabul nach Islamabad weiterreisen. Auch an die pakistanische Hauptstadt rückt der Krieg immer näher heran. Die amerikanische Regierung hat Afghanistan und Pakistan zu einer zusammenhängenden Krisenregion erklärt und mit der Vorliebe der Amerikaner für Abkürzungen die Region und ihre Konflikte »AfPak« getauft. Wie ich von Kabul nach Islamabad komme – mit dem Flugzeug oder auf dem Landweg über den Khaiberpass –, ist zunächst noch offen.
Eine Reihe von Reisen führte mich in den letzten Jahren nach Afghanistan und in seine Hauptstadt. Das Leben in Kabul scheint von Besuch zu Besuch komplizierter zu werden. Die Stadt ist nervös. Ständig warnt mich irgendjemand: Nur bei Tag soll ich mich in der Stadt bewegen, unauffällige Autos benutzen. Restaurants werden als gefährdet oder weniger gefährdet eingestuft. Ich habe das Gefühl, in einem fragilen Moment hier zu sein; jederzeit kann die Nervosität in
Gewalt umschlagen. Jemand berichtet, Selbstmordattentäter würden durch die Stadt fahren, auf der Suche nach einem lohnenden Ziel. Übertreibungen?
In Kabul wohne ich in einem von den Vereinten Nationen empfohlenen Gäste-haus. Als Übersetzerin begleitet mich eine Assistentin, die in der afghanischen Hauptstadt geboren wurde. Das Gästehaus wird von einigen mit AK-48 bewaffneten Afghanen bewacht – das Gepäck wird, ehe man uns die Zimmer zuteilt, sorgfältig kontrolliert. Eine Stunde vor unserer Ankunft wurde in derselben Straße ein afghanischer Geschäftsmann entführt.
In den ersten Tagen muss die Fahrt nach Paktia organisiert werden. Über afghanische Freunde lerne ich Hadschi Mansur Ahmadi* kennen. Ein noch junger Mann; er trägt den Vollbart des Frommen, kleidet sich in einer Mischung aus traditioneller und westlicher Kleidung. Ich frage ihn nach seinem genauen Alter, er macht unterschiedliche Angaben, ist aber wohl zwischen Mitte und Ende dreißig. Mansur stammt aus Paktia, der Provinz, die wir besuchen wollen. In der Provinzhauptstadt Gardez leben viele seiner Freunde und seine Verwandten. Er ist bereit, uns zu helfen. Freunde haben Mansur als vertrauenswürdig geschildert. Ich kann nur hoffen, dass das stimmt.
Fahrt in die unruhige Provinz
Mansurs Motive, uns zu helfen, sind verschwommen: Unsere gemeinsamen Freunde baten ihn darum, und er stimmte zu. Dies verpflichtet ihn, uns zu schützen. Nicht ohne Bedeutung ist auch die Bezahlung. Vielleicht will er uns auch etwas beweisen – er hat versprochen, uns Leuten vorzustellen, die den Taliban nahestehen. Wen genau wir treffen werden, soll sich erst später herausstellen. Wiederholt und immer dringlicher werden wir vor der Fahrt in den Südosten gewarnt. Mansur als Begleiter gibt Sicherheit, jedoch: Vieles an seinen Ansichten ist diffus. Manchmal blitzt eine kaum verhaltene Wut auf – das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Vom Westen, also auch von Leuten wie mir.
Am Freitag, einem Feiertag, holt uns Mansur ab. Er gibt mir Anweisungen, wie ich mich zu verhalten habe. Ich trage jetzt die traditionelle, außerhalb der großen Städte übliche afghanische Kleidung: eine weite Pluderhose, ein weißes, knielanges Hemd, ein Sakko, meinen Kopf bedeckt eine paschtunische Mütze. Meine Übersetzerin ist vollständig verschleiert. Das Verkehrschaos in der Hauptstadt ist an diesem Tag etwas weniger schlimm. Am Holzmarkt, am Rande der Stadt, halten wir, trinken Limonade in Mansurs Haus. Sein Taxi ist ein gelber, klappriger Toyota, die Ablagen sind mit Teppichfetzen ausgekleidet. Zahllose solcher Taxis sind in Afghanistan unterwegs. Hier, im Süden Kabuls, vor allem in Richtung der pakistanischen Grenze.
Mansur stellt einen Sender mit afghanischer Popmusik ein. Nach einigen Kilometern passieren wir eine Militärsperre am Stadtrand von Kabul. Die Soldaten schenken dem alten Taxi mit der vermeintlichen afghanischen Familie keine Aufmerksamkeit. Die Fahrt führt direkt nach Süden, zunächst durch die Vororte der Hauptstadt, dann über Khayrabad nach Zaydabad. Dort beginnt Lowgar, eine seit einiger Zeit unruhige Provinz, die wir durchqueren müssen. Gruppen der Taliban haben dort Fuß gefasst. Im Februar begannen die Amerikaner in der angrenzenden Provinz Warduk ihre Truppen zu verstärken.
Die Zahl der Soldaten in Gegenden, in denen die Aufständischen besonders aktiv waren – wie dem Jalrez-Tal –, wurde deutlich erhöht. Die amerikanischen Soldaten versuchen in den Dörfern kleine, leicht bewaffnete Einheiten aufzubauen. Sie sollen mit den Amerikanern, später allein, die kleinen Städte und Dörfer sichern. Am wichtigsten aber wird, wenige Wochen nach meiner Reise, die Offensive in Helmand sein, der Versuch der Amerikaner, den Taliban eine ganze Provinz zu entreißen.
Die Dörfer der Paschtunen, des größten Stammes in Afghanistan, haben bisher keine Milizen aufgestellt. Aber auch dort wächst die Bereitschaft, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten. Die NATO-Soldaten werden nicht geliebt, ja nicht einmal gemocht, aber die Menschen sind der Kämpfe müde. Das Konzept der Bewaffnung von Milizionären wurde im Irakkrieg entwickelt. Ob es in Afghanistan mit seiner ethnischen Vielfalt, den Clanstrukturen und den Überresten traditioneller Ordnungen funktioniert, ist noch nicht abzusehen.
Ausflugsstimmung in Gardez
Über die Provinzhauptstadt Lowgars, Pol-e Alam, geht es weiter nach Süden. Bei Altamur beginnen die Ausläufer des Spin Range, einer über 4000 Meter hohen Bergkette; die Passstraße geht bis auf knapp 3000 Meter. Im Tal liegt Gardez, die Hauptstadt der Provinz Paktia. Es herrscht an diesem Freitag wunderbares Wetter, meine Bedenken weichen fast einer Ausflugsstimmung. Dabei gäbe unsere Fahrt durchaus Anlass zur Sorge: Viele der entgegenkommenden Fahrzeuge sind Pickup-Trucks, auf deren Ladefläche stehen junge Männer, alle mit Sturmgewehren bewaffnet. Nicht alle tragen Uniform.
Unser Taxi wird meist ignoriert, manchmal winken Männer am Straßenrand, die mitfahren wollen. Wenn sie uns sehen, senken sie die Arme und warten auf das nächste Taxi. Als ich Mansur frage, ob wir anhalten können – vielleicht sogar mit einigen Leuten sprechen –, sieht er mich entsetzt an. Es wäre viel zu gefährlich, warnt er, unsere Anwesenheit würde sich herumsprechen, einige Anrufe mit dem Handy würden genügen, unsere Tarnung wäre aufgeflogen. Ein »Ausflug« bleibt dies nur, solange uns niemand als Ausländer erkennt.
In Gardez treffen wir viele Menschen auf den Straßen an; die Männer gehen zur Moschee, zum Freitagsgebet. Wir fahren zum Stützpunkt der Vereinten Nationen, dort wollen wir übernachten. Das Camp liegt etwas außerhalb der Stadt. Vor dem Eingang setzt Mansur meine Übersetzerin und mich ab. Er will auch zur Moschee und dann unsere Gesprächspartner aufsuchen.
Das Camp ist schwer gesichert: Betonblöcke, Stacheldraht, Sicherheitspersonal mit automatischen Waffen. Nach diversen Telefonaten und einigem Hin und Her mit Walkie-Talkies dürfen wir hinein. Es ist sonntäglich still. Wir warten in der Sonne; schließlich kommt eine junge südafrikanische UN-Mitarbeiterin, mit ihr und einigen ihrer Kollegen essen wir zu Mittag. Dann beziehen wir unser Quartier, eine Mischung aus Baracke und Wohnwagen. Die Zimmer sind kühl, die Vorhänge zugezogen. Jedes Zimmer hat einen elektrischen Ofen. Wieder überkommt mich das Gefühl sonntäglicher Ruhe auf dem Land – fehlt nur der Klang von Kirchenglocken. Die afghanische Realität bleibt außen vor.
Es dämmert schon, als Mansur uns anruft. Er stehe mit seinem Taxi vor dem Eingang des Camps. Im Haus eines geachteten Mannes, so berichtet er, würden einige Männer zusammenkommen. Sie wollten gern mit mir reden. Auf der kurzen Fahrt erklärt mir Mansur, wer die Männer sind: einige Dorfälteste, ein ehemaliger Polizeioberst, Clanchefs. Alle unterstützen sie die Aufständischen. Wir fahren durch die Stadt. Das abendliche Sonnenlicht lässt die Ärmlichkeit der Straßen in orientalischen Bildern verschwimmen. Wir halten vor einem großen Haus in einer staubigen Straße. Einige Schafe laufen über die Straße, Kinder betrachten mich neugierig. Wir warten, bis sich die Tür öffnet und ein Mann, um die fünfzig Jahre alt, mit einem Jungen, den er an der Hand hält, auf uns zugeht. Wir begrüßen uns. Er bittet mich ins Haus. Wir steigen durch ein enges Treppenhaus in den ersten Stock. Er führt mich in einen großen Raum, dort sitzen sieben Männer. An der Stirnseite, gestützt auf einige Kissen, ein großer, kräftiger Mann. Er ist wohl einer der Ältesten in der Runde. Bei meinem Eintritt steht er auf, geht mir entgegen und gibt mir die Hand.
Ein Treffen mit den Clanchefs
Er heißt Sher Mohammad Mangali und dankt für mein Kommen. Er scheint auf meine Fragen zu warten, also erkundige ich mich, wie die Zusammenarbeit der Stadt und der Provinz mit der UN so funktioniere. Sher Mohammad reagiert ungehalten: »Die Vereinten Nationen …«, er zögert einen Moment. »Warum kommen diese Leute nicht zu uns? Stattdessen bauen sie ihre Bunker und vergraben sich wie Mäuse in der Erde.« Die Verachtung in der Stimme dieses selbstbewussten Mannes, eines einflussreichen Grundbesitzers aus Gardez, wie ich später erfahre, ist unüberhörbar. Sher Mohammad Mangali meint das Camp, in dem wir übernachten. Die Bunker gibt es. Und in der Tat, die Mitarbeiter dürfen das Gelände nur selten und unter größten Sicherheitsvorkehrungen verlassen. Zwischen dem Außenposten in Gardez und Kabul verkehren sie mit Helikoptern.
Ich muss an die letzten Tage in Kabul denken: an all die Warnungen und Sicherheitsvorkehrungen. Den Diplomaten in der Hauptstadt geht es nicht anders als den UN-Mitarbeitern in Gardez. Auch sie verlassen ihre Botschaften nicht allzu oft, und wenn, dann meist unter Bewachung. Sie verkehren nur in ausgewählten Restaurants, ihr Bewegungsspielraum ist meistens auf Kabul begrenzt. Die internationale Gemeinschaft hat sich in ihre Festungen zurückgezogen – nicht anders als ihre afghanischen Verbündeten: Auch Präsident Hamid Karsai verlässt seinen wie eine Kaserne im Feindesland geschützten Palast nur selten und die meisten Ministerien gleichen belagerten Festungen.
Das war nicht immer so, und die Vorsicht hat dieser Tage ihre Gründe: Westlich gekleidete Ausländer werden selbst in Kabul mit Misstrauen betrachtet. Noch vor zwei Tagen habe ich es selbst erlebt, bei dem Spaziergang durch den alten Basar – um 1830 entlang des Kabul-Flusses gebaut und lange einer der wichtigsten Märkte Zentralasiens: Ein Junge spuckte auf den Boden, als ich an ihm vorbeiging; meine Übersetzerin wurde mit unflätigen Bemerkungen überzogen. Meist aber wurde ich einfach ignoriert. Ein eigenartiges Gefühl, auf einem Basar nicht von geschäftstüchtigen Händlern angesprochen zu werden. Mir scheint, dass die Afghanen nicht so recht wissen – nicht mehr wissen –, was sie von den Leuten aus dem »Westen« halten sollen. Sie begegnen ihnen auch kaum noch. Es sei denn in schwer bewaffneten Fahrzeugkonvois.
Sher Mohammad hat also recht. Die Vertreter der Staaten des Westens, die so stolz auf ihre Erfolge in Afghanistan sind, verstecken sich, in der Hauptstadt wie in der Provinz. Aber ihre Vorsicht ist nicht unberechtigt: Ich frage Sher Mohammad nach den Ursachen für den immer heftiger werdenden Aufstand. Seine Antwort kommt schnell: »Guantánamo«. Er spricht das fremde Wort langsam und akzentuiert aus. »Die Schuldigen müssen bestraft werden.« Er bewegt die Perlen seiner Gebetskette, langsam, eine nach der anderen, ohne einen Blick darauf zu werfen, und denkt nach. Plötzlich sagt er: »Die Amerikaner haben viele Unschuldige getötet, sogar Gäste einer Hochzeitsfeier. Aus der Luft, mit ihren Bombern.« Dann direkt an mich gerichtet: »Sie wissen das doch. Wir haben ein Recht auf Rache.«
»Das wird den Krieg nicht beenden, und jetzt gibt es einen neuen amerikanischen Präsidenten«, entgegne ich.
»Die fremden Soldaten müssen unser Land verlassen«, sagt er. »Die Zeit wird zeigen, ob der neue Präsident eine andere Politik als Bush verfolgt. Was kann er schon ausrichten? Alles liegt in der Hand Gottes.« Er gibt einem der älteren Jungen einen Wink. Der steht auf, schenkt Tee nach und schiebt die Süßigkeiten näher zu mir. »Das ist ein islamisches Land, es wird mit Gottes Hilfe islamisch bleiben. Die vom Westen gestürzte Regierung hat dies verstanden. Warum sprecht ihr nicht mit ihnen? Sie wollten das Beste für dieses Land.«
Und was erwartet er sich von den Präsidentschaftswahlen im Sommer?
»Die Wahlen werden nicht gerecht sein. Daher ist es gleichgültig, wer in Kabul regiert. Alle sind Marionetten der Amerikaner. Warum macht ihr Deutschen gemeinsame Sache mit den Amerikanern? Sie töten uns.« Seine Stimme ist schneidender geworden. »Wir sind Brüder. Früher haben wir mit den deutschen Ingenieuren, die uns hier halfen, in den Bergen der Umgebung gegrillt. Das ist jetzt zu gefährlich, ich hoffe aber, diese Zeit kommt wieder.« Er wolle nicht, fügt Sher Mohammad hinzu, dass deutsche Mütter um ihre in Afghanistan gefallenen Söhne trauern müssen.
Die Fehler der Vergangenheit
Ich zögere mit meiner Erwiderung. Die Truppen des Westens sind aus guten Gründen in Afghanistan, denke ich. Nicht zuletzt, um die Fehler der Achtzigerjahre zu korrigieren. Der Kalte Krieg hatte zu seltsamen unheiligen Allianzen geführt. Auch die Fehler seit dem Krieg, der im Herbst 2001 nach dem Terroranschlag von New York begann, müssen jetzt korrigiert werden: Es war falsch, auf eine Zentralregierung zu vertrauen, der es nicht gelang, wesentliche Teile des Landes unter Kontrolle zu bringen, und die traditionellen Machtstrukturen zu vernachlässigen; Fehler waren auch der zögerliche Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte; der unzureichende Schutz der Zivilbevölkerung bei Kampfeinsätzen; und es hatte die Einsicht gefehlt, dass auch mit den Aufständischen gesprochen werden muss.
Einflussnahme in Afghanistan war schon immer eine schwierige Angelegenheit: Im Jahr 1838 versuchten die Engländer, einen König ihrer Wahl an die Macht zu bringen, von dem sie eine dem Empire wohlgesonnene Politik erwarteten: Schah Shuja. Er war 1810 von seinem eigenen Bruder gestürzt worden und hatte seitdem im britisch kontrollierten Indien Exil gefunden. Mountstuart Elphinstone, der Doyen der britischen Afghanistan-Politik, kritisierte dieses Vorhaben: »Ich zweifle nicht daran, dass wir Kandahar und Kabul einnehmen und Schah Shuja als Herrscher einsetzen können; aber ihn in einem armen, kalten, starken und weit abgelegenen Land, unter einem so unruhigen Volk wie den Afghanen, an der Herrschaft zu halten, scheint mir hoffnungslos zu sein.« Er sollte recht behalten.
Elphinstone war der erste britische Diplomat gewesen, der Kontakt zu den Herrschern von Afghanistan aufnahm. Seine Erkenntnis, dass ausländische Mächte die traditionelle Ordnung des Landes akzeptieren müssen, hat bis heute Aktualität. Akzeptanz der traditionellen Ordnung heißt, mit Leuten wie Sher Mohammad zu sprechen und ihren Anteil an der Macht anzuerkennen. Immerhin: Der neue Kommandeur der amerikanischen und NATO-Truppen, General Stanley McChrystal, scheint diesen Weg gehen zu wollen.
Das Gesetz der Straße
Am nächsten Morgen fahren wir nach Kabul zurück. Der erste Arbeitstag der Woche, es herrscht viel Verkehr auf der wichtigen Verbindungsstraße. Anfangs beruhigt mich dieser Verkehr. Aber mehr Autos und Menschen bedeutet auch mehr Kontrollen – von wem auch immer. Wir werden ernsthafter kontrolliert als auf der Hinfahrt, kurz nach Gardez das erste Mal. Männer in Polizeiuniform. Mansur setzt seine Kappe auf, rückt sie nervös zurecht. Meine eigene setze ich die ganze Fahrt über gar nicht erst ab. Man soll seinen Kopf bedecken, um Demut vor Gott zu zeigen. Die Polizisten werfen einen gelangweilten Blick in das Taxi, wir werden durchgewinkt. Nach einigen Kilometern wiederholt sich das Ganze. Nicht alle Männer in Polizeiuniformen sind Polizisten in unserem Sinne: Viele arbeiten auf eigene Rechnung, für kriminelle Organisationen oder Kriegsfürsten. Ein Fahrzeug vor uns wird an den Straßenrand beordert. Im Wagen sitzt eine Familie, zwei Männer steigen aus. Sie öffnen den Kofferraum. Wir fahren weiter. Mansur ist nervös: Bei jeder Kontrolle stellt er die Musik ab, danach sucht er hektisch einen neuen Sender.
Kontrollen mit Kalaschnikows
Kurz nachdem wir Lowgar erreichen, ist die Straße am Ortsausgang eines kleinen Dorfes bis auf einen schmalen Durchlass blockiert. Junge bärtige Männer, mit Kalaschnikows bewaffnet, kontrollieren die Fahrzeuge. Sie tragen keine Uniform. Mansur fährt langsam, aber er hält nicht an. Er wirft mir einen Blick zu, fast wütend. Er ist jetzt noch nervöser. Sein Manöver, einfach weiterzufahren, misslingt. Zwei der Bewaffneten stoppen uns. Sie bedeuten uns, an den Straßenrand zu fahren. Dann geht einer langsam um das Taxi, klopft an mein Fenster. Ich öffne es, auch Mansur hat das Seitenfenster geöffnet. Dies sind keine Polizisten. Ich nehme meine Brille ab und schaue dem Mann ins Gesicht. Er ist jung, trägt einen ungepflegten Bart.
Den Finger hält er am Abzug. Die Waffe ist entsichert. Mansur grüßt ihn, ich murmele den gleichen Gruß – in der Hoffnung, dass er mich nicht deutlich versteht und als Ausländer erkennt. Jetzt wirft er einen Blick auf die Frau im Fonds, noch einmal auf Mansur und mich. Meine Übersetzerin rückt ihr Kopftuch zurecht, sie blickt zu Boden. Dann erwidert der Bewaffnete den Gruß und fordert uns auf weiterzufahren. Bis Kabul sind es noch weit über hundert Kilometer – es sind also noch viele solcher Kontrollen möglich. Wir sind wertvolle Ware, ein Faustpfand oder, schlimmer noch, Objekte einer oft brutalen »symbolischen« Politik.
Erst als wir den Stadtrand der Hauptstadt erreichen, wirkt Mansur wieder gelöster. Er hält, nicht weit vom Holzmarkt, an einem Obststand an und kauft Orangen und Süßigkeiten, die wir zusammen essen. Die Begegnung in Lowgar war gefährlich: Die paschtunische Bevölkerung unterstützt die Taliban, Beobachter aus dem »Westen« sind nicht willkommen. Als Folge befährt kaum noch jemand die Straßen Afghanistans, und so geht der Kontakt mit dem Land Stück für Stück verloren.
Die Erinnerung an meine Reise in den Irak vor drei Jahren kommt auf: Auch dort entstanden Parallelwelten, die sich nur in ritualisierten, formalen Kontakten oder im Kampf begegneten. Nach den Kontrollen entlang des Weges ist die Rückkehr nach Kabul fast eine Heimkehr, das Gästehaus ein Hort der Sicherheit. Nach einigen Stunden geht dieses Gefühl verloren, es dominiert wieder die unwirkliche Atmosphäre der Stadt. Wir planen, am nächsten Tag abzureisen.
Wie sich herausstellt, ist der Landweg nach Pakistan für Ausländer – ohne militärische Absicherung – nicht passierbar. Mein deutscher Pass würde von den Kontrolleuren an der Grenze schnell an die Taliban gemeldet werden. Auf der pakistanischen Seite müssten wir damit rechnen, entführt zu werden, sagen uns Mitarbeiter des Tribal Liaison Office, einer Einrichtung, die in den paschtunischen Stammesgebieten forscht und dort auch Projekte zum Aufbau des Verwaltungs- und Gerichtswesens koordiniert. Mountstuart Elphinstone war 1808, von Indien kommend, bis nach Peschawar vorgedrungen, dem »Außenposten« (so die Bedeutung des Wortes), den Sultan Akbar im 16. Jahrhundert errichtet hatte – nach Kabul gelangte er nicht. Uns geht es nun in gewisser Weise umgekehrt: Statt nach Peschawar zu fahren, fliegen wir am nächsten Morgen von Kabul nach Islamabad.
In Pakistan beginnt in diesen Tagen die Offensive der Armee gegen die Taliban im Nordosten des Landes. Einen Tag vor unserer Ankunft in Islamabad hatte Präsident Obama auf einer Pressekonferenz die pakistanische Regierung scharf kritisiert und größere militärische Anstrengungen gegen die in Richtung Islamabad vordringenden Taliban verlangt. Pakistan verfügt über eine starke Armee und einen einflussreichen Geheimdienst – diese Institutionen ermöglichen die Kontrolle, teilweise sogar die Beherrschung der radikal-religiösen Gruppen, erklärt mir ein pakistanischer Politikwissenschaftler, der vor seiner späten akademischen Karriere ein ranghoher Offizier war. Mit den radikalen Islamisten können daher von Fall zu Fall Allianzen geschmiedet werden.
Von Teilen der Armee werden die Taliban geduldet, manchmal auch unterstützt. Nicht zuletzt weil die Kämpfer in Kaschmir von diesen Gruppen verdeckte oder weniger verdeckte Hilfe erhoffen können. Die Eskalation der Gewalt richtet sich – in den Augen vieler Militärs – nicht gegen Armee und Geheimdienst und untergräbt daher nicht deren Machtposition. Nur hat es den Anschein, dass die Taktik nicht länger aufgeht: Die Taliban beschränken sich nicht mehr auf die ihnen stillschweigend überlassenen Gebiete, sie rücken auf das Machtzentrum des pakistanischen Staates vor. Und die Amerikaner bewerten die Kollaboration mit den Taliban inzwischen zunehmend kritisch.
Isoliert in Islamabad
Islamabad ist eine moderne Stadt, sie wirkt seltsam geschichtslos, der pakistanischen Realität entrückt. Der Traum von Städteplanern und Beamten. Wir wohnen im »Marriott«. Am 20. September 2008 hatten Terroristen einen mit Sprengstoff beladenen Kleinbus in den Eingang des Hotels gefahren und dann den Sprengsatz – zwischen 600 und 1000 Kilo, so schätzen Experten – gezündet. 53 Menschen kamen in den Flammen ums Leben, etwa 270 wurden verletzt. Pakistans Justizminister Farooq Naek verglich die Tat mit den Anschlägen des 11. September. Wie in New York sprangen Menschen aus Angst vor den Flammen aus dem vierten und fünften Stock in den Tod.
Jetzt, Monate später, ist das Hotel wieder aufgebaut und renoviert. Betonbarrieren, Sicherheitsschleusen und Metalldetektoren vermitteln ein Gefühl der Sicherheit, der Abgeschlossenheit und der Isolation. Ansonsten erinnert nichts mehr an den Anschlag, der Pakistan tief verunsicherte. Die Hotelleitung versucht, den Terrorakt vergessen zu machen. Wie vor dem Anschlag bieten mehrere Restaurants den Gästen Komfort und internationale Küche. In diesen Tagen sind sie meistens leer. Am ersten Abend esse ich als einziger Gast im Steakhouse des Hotels. Die Taliban stehen fünfzig Kilometer vor Islamabad. Die Stadt in Richtung Norden zu verlassen ist daher kaum möglich. Niemand findet sich bereit, Ausländer dorthin zu fahren. Peschawar ist also auch von dieser Seite nicht zu erreichen. Jedenfalls raten uns alle, die wir dort treffen wollten, dringend von der Reise ab. Wir bleiben deshalb in Islamabad.
Das »Marriott« hat eine Bar, die versteckt im Keller des weiträumigen Gebäudes liegt. Da Alkohol ausgeschenkt wird, ist nur westlichen Gästen der Zutritt gestattet. Die gibt es aber kaum mehr in diesem Hotel. Als ich am letzten Abend meiner Reise die Bar besuche, bin ich – wie schon im Steakhouse – der einzige Gast. An den beiden Billardtischen spielen die Kellner. Große Flachbildfernseher übertragen Sportprogramme. Offensichtlich freuen sich die Kellner über den Gast.
Zwei Stunden sitze ich allein in der Bar und versuche, die Eindrücke und Gespräche der letzten Wochen zu ordnen. Die Region erlebt eine Zeit des Übergangs: In Pakistan beginnt sich die Gesellschaft gegen eine weitere Islamisierung zu wehren. Die Armee blickt nicht mehr nur nach Osten, auf den alten Erzfeind Indien, sondern auch auf die Gefahren im eigenen Land – ein wichtiger Schritt. Das militärische und zivile Engagement des Westens in Afghanistan ist notwendig, bedarf aber einer neuen Strategie.
Es herrscht Krieg, und dieser Krieg weitet sich aus. Das Leben in den Festungen ist daher keine Option, die auf Dauer funktionieren wird. Die Amerikaner haben das erkannt und danach gehandelt. Erst im Irak und nun in Afghanistan. Ich muss daran denken, was mir ein kanadischer Offizier, der in Gardez für die Vereinten Nationen als militärischer Berater arbeitet, sagte: Die Verluste der afghanischen Armee sind hoch, sie werden noch steigen. Auch die Verbündeten werden in diesem Krieg noch höhere Verluste hinnehmen müssen.
Ich bin überzeugt, dass der vom Westen in Afghanistan und Pakistan jetzt eingeschlagene Weg der richtige ist. Aber mir ist klar, dass sich dieser Gedanke leicht denken lässt: besonders in der Sicherheit des schwer bewachten »Marriott«-Hotels, noch so einer Festung des Westens; in dieser seltsamen Bar, wo die Kellner Billard spielen und ab und an ein kühles Bier servieren.
Literatur zum Thema Afghanistan und Pakistan:
- Tariq Ali »Pakistan: Ein Staat zwischen Diktatur und Korruption«. Diederichs, 2008
- John Burke / William Baker »From Kashmir to Kabul«. Prestel, 2002.
Bildband mit historischen Aufnahmen der legendären britischen Fotografen
- Ahmed Rashid »Descent into Chaos: The United States and the Failure of Nation Building in Pakistan, Afghanistan, and Central Asia«. Penguin, London 2008
- A. Roberts H. Synnott: »The Struggle for Afghanistan« in: »Survival: Global Politics and Strategy«, Vol. 51, No 1/February-March 2009Fotos: Hulton Archive/Getty Images; Picture Alliance; Illustration Karte: Carolin Lintl