»Wir müssen uns von unserer Gleichgültigkeit verabschieden«

Bis April leitete die US-Diplomatin Ertharin Cousin das Ernährungsprogramm der UNO. Im Interview erklärt sie, warum der Kampf gegen den Hunger zu gewinnen ist und was ihr dennoch Albträume bereitet.


SZ-Magazin: Gibt es einen Moment auf Ihren Reisen durch die ärmsten Länder der Welt, der sich besonders in Ihr Gedächtnis gebrannt hat?

Ertharin Cousin: Unter den vielen Momenten vielleicht dieser: Mein Team und ich waren in Bangladesh, wir verteilten Mittagessen an einer Schule, anschließend stellten sich die Kinder vor uns auf und sangen: »We shall overcome«. Auf Englisch. In Bangladesh. Das war eine der wenigen Male, bei denen mich Journalisten weinen sahen.

Warum verbieten Sie sich Tränen?
Nur beruflich, privat nicht. Ich will Optimismus verströmen. Aus dem selben Grund finden Sie von mir kein Foto aus einer Krisenregion mit einem unterernährten Kind. Das würde das völlig falsche Signal senden. Ich halte dicke, gesunde Babys im Arm. Die Botschaft muss heißen: Wenn wir, die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, kommen, bringen wir Hilfe, auch in der schlimmsten Situation. Die Welt soll sehen, was möglich ist, wenn wir zusammenhalten. Mein Imperativ lautet: Du strahlst immer Mut und Zuversicht aus! Das färbt auch auf andere ab. Ich weiß, dafür braucht man einen starken Charakter. Den habe ich zum Glück.

Den brauchen Sie wohl auch für ihr Ziel: Bis zum Jahr 2030 soll der Hunger auf Erden ausgerottet sein. Das klingt toll, aber unvorstellbar. Wie viel Hoffnung steckt in diesem Satz, wie viel ist Realität?
Ohne Hoffnung ginge gar nichts, aber Hoffnung allein würde nicht reichen. Ich sauge mir ein solches Ziel ja nicht aus den Fingern, sondern das haben die Vereinten Nationen formuliert. Natürlich fließen da die Erkenntnisse des Welternährungsprogramms stark mit ein, das ich bis April geleitet habe, aber eben nicht nur. Es gibt viele Faktoren, die zeigen, dass es möglich ist den Hunger auszurotten. Schwierig natürlich, aber möglich.

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Und wie soll das funktionieren?
Auf der Erde gibt es genügend Nahrung für alle, es gibt genügend Geld, um sie zu produzieren oder zu kaufen und wir verfügen über die notwendigen technischen Mittel, dieses Problem in Angriff zu nehmen. Hunger ist ein riesiges Problem, größer als AIDS oder Malaria, aber es ist lösbar.

Trotzdem hungern weltweit Millionen Menschen. Und Sie haben sich nur noch 13 Jahre Zeit gegeben, das zu ändern. Wie wollen Sie das schaffen?
Einen Gutteil haben wir schon erreicht, es hungern dauerhaft über 200 Millionen Menschen weniger als 1990.  Aber man muss beim Thema Hunger unbedingt unterscheiden zwischen dem akuten und dem langfristigen Hunger: Den akuten Hunger, der durch Flucht, Kriege, Erdbeben oder Wetterkatastrophen ausgelöst wird, haben wir inzwischen gut im Griff, wir können die Hungernden und Kranken heute schnell mit dem Nötigsten versorgen. Langfristig entscheidend ist jedoch etwas anderes: Den Menschen Sicherheit und Stabilität zu verschaffen, dass sie sich selbst mit gesundem Essen ernähren können, wir nennen das food security. Jeden Tag gehen fast 800 Millionen Menschen – das ist jeder neunte – hungrig zu Bett. Und wer hungrig ist, kann bestenfalls an morgen denken und daran, wie er dann an Essen kommt. Aber er kann keine Vorräte anlegen, er wird seine Kinder nicht zur Schule schicken, weil das langfristiges Denken und Handeln notwendig macht. Genau an diesem Hebel müssen wir ansetzen.

Sie sitzen jetzt in einem Zimmerchen der Stanford University in Kalifornien, halten dort am Institut für Nahrungssicherheit und Umwelt Vorlesungen. Bis April waren Sie Vorsitzende des Welternährungsprogamms, einer Organisation der UNO, und hatten 14 000 Mitarbeiter. Was kann man als Einzelkämpferin gegen den Hunger tun?
Reden, überzeugen, hartnäckig sein, meine  25 Jahre Erfahrung und meine Kontakte nutzen. Ich kenne die Obamas noch aus der Zeit, als sie in Chicago in der selben Gegend wie ich wohnten, Michelle und ich haben im selben Geschäft eingekauft, Barack kaufte dort Milch für seine Töchter, manchmal sah ich ihn, wie er am See entlang radelte. Diese Freundschaft war und ist unaufgeregt.

Und er hat Sie 2009 zur Botschafterin der UNO für Nahrung und Landwirtschaft in Rom berufen.
Sicher war es kein Nachteil, dass wir uns schon kannten, tatsächlich hatte ich da aber bereits neun Jahre im Weißen Haus für Bill Clinton gearbeitet. Dass ich ihn und Hillary kenne, dass wir uns ab und zu WhatsApp-Nachrichten schicken und uns umarmen, wenn wir uns sehen, freut mich persönlich und nützt mir beruflich.

Weil es Ihnen Türen öffnet?
Ja. Aber das kann ich schon auch selbst. Denn fast alle, Manager von Weltkonzernen ebenso wie Politiker, sind heute davon überzeugt, dass der Sieg über den Hunger eines der zentralen Themen ist. Als Vorsitzende des Welternährungsprogramms der UNO, hat Angela Merkel mir die Türen zur deutschen Regierung geöffnet, Kofi Annan hat mir geholfen, mich mit den Politikern in den Ländern der Subsahara zusammen zu bringen, einer der ärmsten Landstriche überhaupt. Auch mein Draht zu Königin Maxima der Niederlande, die sich ebenfalls sehr mit diesen Themen beschäftigt, ist kurz. Trotz aller Kontakte muss man wissen, dass niemals irgendwo irgendetwas schnell geht. Immer wieder muss man alle an ihre Zusagen und Versprechen erinnern. Darum ist es so wichtig, einen Fuß in der Tür zu haben. Außerdem laden mich jetzt, da ich nicht mehr die Chefin des Welternährungsprogramms bin, immer noch die unterschiedlichsten Organisationen ein, zu ihnen zu sprechen; allein in den nächsten fünf Tagen fliege ich 70 000 Kilometer, von der Elfenbeinküste bis in die Niederlande.

Wie vielen Organisationen, wird auch dem Welternährungsprogramm mit seinen 14 000 Mitarbeitern der Vorwurf gemacht, zu groß, zu träge sein und zu leichtfertig mit Spendengeldern umzugehen. Stimmen Sie diesen Vorwürfen zu, jetzt, da Sie nicht mehr Vorsitzende sind?
Natürlich nicht. Aber für die Vergangenheit stimmt es. Nicht nur wir, alle humanitären Organisationen waren zu langsam. Das haben wir geändert. Wir mieten Lagerhallen dort an, wo Nahrung gebraucht werden wird, kurze Weg sind wichtig, wir können inzwischen durch Wettervorhersagen früher erkennen, in welchen Ländern wegen Dürre oder Überschwemmungen bald eine Hungersnot herrschen könnte. Wir haben die Mitarbeiter geschult effizienter zu arbeiten, nicht mehr nur die Arbeit irgendwie zu schaffen. Trotzdem geht es natürlich noch besser.
Mein Argument lautet immer: Humanitäre Organisationen finanzieren sich ausschließlich durch Spenden, sei es von Privatpersonen oder von dem, was die Länder uns geben – und das sind Steuergelder. Wir müssen damit verantwortungsvoller umgehen, sonst bleiben die Spenden eines Tages aus.

Es muss doch für Sie ein Paradox sein, dass Länder wie die USA einerseits zu den größten Geldgebern von Organisationen gehören, die den Hunger ausrotten wollen, andererseits liefern sie Waffen an genau jene Länder und unterstützen Kriege, die verantwortlich sind für Hunger oder Flucht?
Das ist der alte Streit: Investierst Du in Waffen oder Butter. Oder in beides? Aber es gibt Hoffnung: Dieses Jahr bat mich zum ersten mal die International Defence Community, eine informelle Vereinigung hoher Militärs, über Hunger auf der Welt zu sprechen. Denn die gesicherten Erkenntnisse, die Hilfsorganisationen haben, machen sich inzwischen auch ranghohe Militärs zu eigen. Wir wissen, dass die Angst Hunger zu leiden zu instabilen Verhältnissen in einem Land führen und die wiederum politische Krisen und Kriege auslösen können.

War das in Syrien auch so?
Ja. Es ist eine Tatsache, dass, bevor der Krieg dort begann, Dürre herrschte und die Ernten schlecht ausfielen. Dauerhaft ausreichend Essen zu haben, bedeutet auch politische Sicherheit und Stabilität. Anders gesagt: Ein Land, das seine Bevölkerung in Ackerbau und Viehzucht unterrichtet, die Kinder zur Schule schickt, muss weniger in Waffen investieren, weil weniger Kriege drohen. Hunger ist fast immer der Dreh- und Angelpunkt.

Idealerweise spende ich also Geld für Leute, die nicht hungern müssen. Klingt ein wenig ungewohnt.
Genau das ist das Problem. Die Bereitschaft der Weltgemeinschaft zu spenden, steigt enorm, wenn sie im Fernsehen Bilder von hungernden und ausgemergelten Menschen sieht, die unverschuldet in Not geraten sind. Dabei lässt sich einfache Rechnung aufmachen: Jemanden in akuter Not zu versorgen, kostet sieben Dollar. Und nur einen Dollar, um in seine Nahrungssicherheit zu investieren. Vorsorge rettet als nicht nur Leben, es spart auch Geld. Das ist bei vielen noch nicht angekommen.

Immer häufiger sind Klimakatastrophen wie Dürren oder Überschwemmungen schuld, wenn Menschen hungern. Was nützen da die besten Unterweisungen in nachhaltigem Anbau?
Das ist vermutlich die größte Herausforderung überhaupt. 80 Prozent der Menschen, die während meiner Jahre beim Welternährungsprogramm mit Essen versorgt werden mussten, lebten in klimatisch gefährdeten Zonen. Es gibt zwar inzwischen Pflanzen, die unter extremen Klimabedingungen wachsen, wir können diesen Menschen erklären, dass Nachhaltigkeit auch bedeutet, Vorräte anzulegen, trotzdem reichen die meist nur für kurze Zeit. Das zu ändern, schafft auch die größte Hilfsorganisation nicht allein. Dazu braucht es die Weltgemeinschaft. Wer glaubt, die Klimakatastrophe sei die Erfindung einiger Politiker und der Medien, dem sage ich, fahr mal in den Sudan oder den Niger, und Du wirst Deine Meinung schnell ändern.

Haben Sie manchmal Albträume?

Oft. Das kann man gar nicht verhindern, wenn man in die ärmsten Länder der Welt reist.

Wovon träumen Sie dann?
Zum Beispiel von zwei Kindern in Somalia, so alt wie meine Enkel, die so unterernährt waren, dass sie nicht mehr gehen konnten. Sie konnten sich nur noch an ihre Mutter lehnen. Das hat mir fast das Herz gebrochen.

Außer Kriege und Klimakatastrophen gibt es noch jene Länder, wo Spenden wenig nützen, weil Tradition stärker ist als Geld. Eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung zeigt, dass in Afghanistan fast 70 Prozent der Frauen unter- oder mangelhaft ernährt sind. Denn dort verwaltet der Mann das Geld und kriegt selbstverständlich das bessere Essen. Ein solches Denken zu verändern, dauert doch nicht nur 13 Jahre, sondern eher Jahrhunderte, oder?
Ja, das ist ein immenses Problem. Ein wesentlicher Teil der Lösung steckt darin, dass Männer in diesen Ländern begreifen müssen, dass Nahrungssicherheit nicht ihrer Familie hilft, sondern auch ihnen selbst. Denn eine unterernährte Frau, die schwanger ist, wird ein unterernährtes Kind zur Welt bringen. Und die Gefahr, dass ein unterernährtes Kind in den ersten beiden Lebensjahren stirbt, ist fünf mal höher, als bei einem gesunden.

Müssen das nicht vorrangig Frauen begreifen?
Die Frau ist ja in der Regel für die Ernährung der Kinder zuständig. Sie wird ihnen das bessere Essen geben als sich selbst und den Jungen bessere Nahrung als den Mädchen.

Erreichen Sie die Männer mit ihrer Botschaft oder ernten Sie nur ein müdes Lächeln?

Ich spreche in diesen Ländern nur mit Männern, die unsere Meinung teilen, die gibt es glücklicherweise überall. Das verspricht mehr Erfolg, als wenn man langwierige Überzeugungsarbeit leisten muss. Wir müssen sie dazu bringen, Frauen gleichberechtigten Zugang zu Geld und zur Erziehung zu geben, denn wir wissen heute, dass sie sich dann nicht nur um die Gesundheit, die Ernährung ihrer Familie und um die Schulbildung ihrer Kinder kümmern, sondern um die ganze Dorfgemeinschaft. Frauen sind bei fast all diesen Fragen der Schlüssel zur Lösung.

Sie sehen viel Elend und erleben viel Ungerechtigkeit. Zeigen Sie Ihre Verzweiflung privat?
Ich umgebe mich mit der Riege meiner besten Freundinnen, die mich trösten und umarmen. Vor ihnen kann ich auch mal zusammenbrechen. Ich bin fest davon überzeugt, dass alle Frauen gute Freundinnen brauchen, sehr gute.

Die Gretchenfrage: Was kann ein Einzelner tun, um den Hunger auf Erden langfristig einzudämmen? Spenden?
Spenden ist schon mal sehr gut, denn Geld ist bei allen humanitären Organisationen immer knapp. Man kann Parteien wählen, die diese Themen ernst nehmen, man kann über den eigenen Tellerrand schauen und Menschen helfen, die man nicht kennt, und die nicht über den Tellerrand schauen können, weil sie gar keinen Teller haben. Wir müssen uns von unserer Gleichgültigkeit verabschieden: Unser Planet wird immer kleiner, wir werden näher zusammenrücken, weil wir die Erde mit immer mehr Menschen teilen, und der Klimawandel große Gebiete unbewohnbar macht. Es kann uns nicht gleichgültig sein, was scheinbar weit weg von uns passiert, denn es ist nicht mehr weit weg.

Leisten Sie sich trotzdem eine Extravaganz?
Ja. Einmal in der Woche lasse ich mir meine Haare machen.

Foto: Stephanie Füssenich