Herzgepäck

Warum hängen viele Menschen so sehr an ihrem Handgepäck, dass sie ihr Leben riskieren würden, um es noch zu retten?

10.000 Meter über der Erde ist das Handgepäck die letzte Verbindung zur vertrauten Heimat.

Foto: David Rothenberg

Genau wird man nie mehr feststellen, wie viele der 41 Todesopfer am 5. Mai 2019 in Moskau daran starben, dass sie oder andere Passagiere ihr Handgepäck bei der Notlandung nicht zurücklassen wollten. Sicher ist, dass sich die beiden Notrutschen des Flugzeugs vorn befanden und die meisten Toten im hinteren Teil gefunden wurden. Videos zeigen den Rauch, dann Flammen, dann die Explosion des Flugzeugs.

Neunzig Sekunden. Länger darf eine Evakuierung nicht dauern, die Gefahr, durch Rauch und Feuer zu sterben, ist riesig. Greifen sich Passagiere erst ihr Handgepäck, bevor sie zur Notrutsche hasten, geht die Rechnung nicht mehr auf. Deshalb starben Menschen wie in Moskau, aber Handy und Cholesterintabletten wurden gerettet. Und das, obwohl alle vor dem Start die Durchsage gehört haben, im Fall einer Notlandung das Handgepäck auf keinen Fall mitzunehmen. Hatten die, die das doch taten, alle einen an der Klatsche? Wenn die Erklärung so einfach wäre!

Unser Verhältnis zu unserem Handgepäck ist verzwickt, das kann jeder bei sich selbst beobachten: Verreisen wir mit dem Auto, hält uns niemand davon ab, so viel reinzustopfen, wie es eben geht. Schon im Zug ist es schwieriger, wir müssen den Koffer schließlich tragen können. Fliegen wir, sind wir bereits vor dem Abflug mit einem Wust an Vorschriften konfrontiert, wie wir uns zu verhalten haben und was in die Koffer darf, die wir aufgeben. Das Handgepäck unterliegt noch mal besonderen Vorschriften. Fast jede Fluggesellschaft erklärt auf ihrer Internetseite, wie groß und schwer es maximal sein darf, was wir mit ins Flugzeug nehmen können – und vor allem, was nicht: Nagellackentferner etwa. Unser Gefühl sagt: Meine kleine Tasche ist alles, was mir bleibt, und es sind nur Sachen drin, die mir wirklich wichtig sind.

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Selbst Larissa Schindler, Professorin für empirische Sozialforschung in Bayreuth, hat sich dabei ertappt, dass sie ­während eines Flugs überlegte, auf welche Dinge in ihrem Handgepäck sie unter keinen Umständen verzichten möchte. Dabei hat die Soziologin eine Studie erstellt mit dem Titel: Die Flugreise. Zum körperlichen Vollzug technisch beschleunigter ­Mobilität, was nicht viel anderes heißt als: Warum verhalten sich Menschen im Flugzeug so, wie sie sich verhalten?

Die Technik der Flugzeuge wird immer ausgefeilter, doch wie Menschen sich beim Fliegen verhalten, lässt sich viel schwerer berechnen

Das Ergebnis: zum Beispiel, weil die Zeit im Flugzeug für Reisende eine Ausnahmesituation ist. Man wird mit vielen Fremden auf engstem Raum gepfercht, berührt sie oft ungewollt. »Mit dem Körper wird Verbindlichkeit hergestellt«, sagt Schindler, »der Abstand von einem Meter, den wir im Alltag mit Fremden automatisch einhalten, ist nicht mehr gewährleistet.« Hinzu kommt die stark begrenzte Bewegungsfreiheit, man kann im Grunde nur zur Toilette gehen, selbst das ist oft schwierig, wenn der Getränkewagen den schmalen Weg versperrt. Man hat keine Kontrolle über das Flugzeug und muss der Technik blind vertrauen. Obendrein wird bei den Durchsagen des Kabinenpersonals über das Verhalten im Notfall klar, welchen Gefahren man für die nächsten Stunden aus­gesetzt ist. Einig ist sich die Forschung darin, dass Verlust der Kontrolle und Mangel an Bewegungsfreiheit die wesentlichen Auslöser für jenen Stress sind, bei dem Menschen irrational handeln, also auch ihr Handgepäck unter allen Umständen retten wollen. Patricia Münster hat während ihrer Jahre als Flugbegleiterin sogar erlebt, »dass Menschen ihr Handy auf die Notrutsche mitnehmen, aber ihr Kind vergessen«.

Die Technik der Flugzeuge wird immer ausgefeilter, doch wie Menschen sich beim Fliegen verhalten, lässt sich viel schwerer berechnen. Und es geht ums Geld: Je billiger die Flüge, desto mehr Passagiere, desto enger die Sitzreihen, desto­ weniger Gepäck kann man mitnehmen, ohne dafür zu bezahlen. Doch das Handgepäck wird mehr, sagt Hermann Rathje von der Deutschen Gesellschaft für Luftfahrtpsychologie, »weil inzwischen der letzte Zentimeter Platz ausgenutzt wird. Sagt dann jemand von der Crew zu einem Passagier, sein Handgepäck müsse ganz nach hinten, springt der häufig bei der Landung vor dem Halt der Maschine auf und versucht, es wieder an sich zu nehmen, bevor andere Passagiere aufstehen und ihm den Gang versperren.«

Natürlich bleibt der Unterschied drastisch, ob jemand nervös wird, weil er sein Handgepäck nicht in seiner Nähe weiß, oder eine Notlandung erlebt wie in Moskau. In den meisten Fällen fällt es zum Glück nicht so stark ins Gewicht, wie sehr Menschen an ihrem Handgepäck hängen. Aber es ist das Einzige, was ihnen zwischen all den Fremden zehntausend Meter über dem Ozean ein Gefühl von Heimat gibt. Bleibt die Frage: Ist es gut oder schlecht, dass auch die modernste Technik menschliches Verhalten kaum ändern kann?