Sankt Petersburg

Weiße Nächte: zu Besuch bei Dostojewskis Urenkel.

Stadtschreiber
Lange hat Dmitri Andrejewitsch Dostojewski seinen Nachnamen als Fluch empfunden. Seine Mutter hat ihm als Kind von seinem berühmten Urgroßvater erzählt und ihn gewarnt, er solle das lieber für sich behalten. Ein kluger Rat, so schien es: Wegen dieses Namens ist Dmitris Vater 1931 kurz verhaftet worden, und auch in Dmitris Schule sei der Name Dostojewski lange verpönt gewesen, kein einziges seiner Bücher sei auf dem Lehrplan aufgetaucht. So war das an einigen sowjetischen Schulen zur Stalin- und Chruschtschow-Zeit. Die Dämonen etwa, die Geschichte einer Verschwörung, wurde erst Ende der Siebzigerjahre neu aufgelegt, zu unwägbar schien die Wirkung dieses Buchs.

Dmitri ist so klein wie sein Urgroßvater und auch im Gesicht meint man sofort eine Ähnlichkeit entdecken zu können: die gleichen tiefen Augenhöhlen, leicht eingefallene Wangen, das dünne Haar, ein ähnlicher altrussischer Bart. Dmitri ist mit 67 allerdings schon sieben Jahre älter als Fjodor zum Zeitpunkt seines Todes.

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Das erste Buch aus dem Werk seines Urgroßvaters, das Dmitri las, war Schuld und Sühne, der in Sankt Petersburg spielende psychologische Kriminalroman um den Mörder Rodion Raskolnikow. »Ich war damals 19 Jahre alt, zu jung und dumm, um es zu verstehen«, sagt er, er legte es bald wieder weg. Schuld und Sühne, neudeutsch: »Verbrechen und Strafe«, gilt als Dostojewskis populärster Roman. Den Hinterhof, wo Raskolnikow wohnte, kann man heute noch besuchen, ebenso wie die letzte Wohnung Fjodor Dostojewskis, aus der man 1971 ein Museum gemacht hat.

Dmitris Vater trug im Krieg immer eine Büste von seinem Großvater Fjodor bei sich, als Glücksbringer. Dmitri dagegen begann erst in den Sechzigerjahren, seinen Familiennamen zu schätzen. Er war ohne höheren Schulabschluss zur Armee gegegangen, zu DDR-Zeiten in Potsdam stationiert, später auf Kuba, arbeitete nach seiner Rückkehr als Straßenbahnführer und schlug sich mit kleineren Reparaturjobs durch. Aber er wurde eingeladen in die ganze Welt. Zu Tagungen der Dostojewski-Gesellschaft, zu Dreharbeiten einiger Dokumentarsendungen über das Leben des Urgroßvaters. 1964 war er für eine BBC-Dokumentation in Baden-Baden, er ging abends ins Kasino und gewann mit dem System, das der Urgroßvater in seinem Roman Der Spieler skizziert hatte, 190 Mark, viel Geld in der damaligen Zeit. 1981 bekam Dmitri Krebs und brauchte dringend ein teures, für ihn unbezahlbares Medikament aus Japan. Dmitris Mutter bat den japanischen Übersetzer um Hilfe, der half gerne und schnell, Fjodor Dostojewski wird merkwürdigerweise in Japan wie ein Nationalheld verehrt. Dmitri wurde geheilt und sagt heute: »Fjodor hat mir das Leben gerettet.«

Inzwischen lebt Dmitri am Stadtrand von Sankt Petersburg, in einem Plattenbau auf 46 Quadratmetern, zusammen mit seiner Schwiegertochter und drei Enkelkindern. Er arbeitet schon lange nicht mehr, das Bein schmerzt immer wieder. Manchmal fährt er ins Museum, um Literaturwissenschaftler und Touristen im Namen der Familie zu begrüßen. Ganz selten empfängt er Besuch zu Hause in der kleinen Küche inmitten der tobenden Enkelkinder.

Sein Sohn Alexei arbeitet als Fährkapitän für ein Kloster, das auf einer Insel im Lagoda-See liegt; er kommt nur alle zwei Wochen nach Hause. Auch Alexei hat nie studiert, musste zur Armee, arbeitete kurze Zeit als Straßenbahnführer. Wenn Dmitris Bein ihn wieder zwingt, zu Hause zu bleiben, schickt er Alexei als Vertreter der Familie zu den Tagungen in aller Welt. Die Dostojewskis haben seit der Revolution 1917 keine Tantiemen erhalten, aber im Russland Putins sind der Name des Schriftstellers und seine Überlegungen zur russischen Nation so populär wie lange nicht mehr.

Dmitris Enkeltochter war vier, als ihr die Eltern vom berühmten Vorfahren erzählten; sie verstand es noch nicht. Sein jüngster Enkel Fjodor ist gerade einmal zweieinhalb Jahre alt. Er ist der vierte Fjodor Dostojewski, und die Familie ist glücklich, dass der Nachname nun nicht aussterben wird. Die Familie Dostojewski führe ein glückliches Leben, sagt Dmitri. »Fjodor hat drei Dinge für alle seine Nachkommen besiegt: den Alkohol, die Epilepsie und die Spielsucht.«

Natürlich hat Dmitri inzwischen alles vom Urgroßvater gelesen. Immer noch ist Schuld und Sühne das Buch, über das fast alle mit ihm sprechen wollen. Dmitris Lieblingsbuch ist jedoch ein anderes: Die Brüder Karamasow. »Wer die russische Seele kennenlernen und verstehen will, muss dieses Buch lesen. Die drei Brüder symbolisieren alles, was uns Russen ausmacht: den Glauben, den Zweifel, die Rebellion.«


Von der Ostsee, über die Newa, bis nach Moskau

Brücken
Nachts um halb zwölf werden während der taghellen »weißen Nächte« im Sommer die Brücken hochgeklappt. Dutzende Frachtschiffe fahren dann hintereinander von der Ostsee die Newa herauf in Richtung Ladoga-See und weiter über die von Stalin gebauten Kanäle – bis nach Moskau und über die Wolga bis ins Kaspische Meer. Den besten Blick auf diese Schiffsparade hat man vor der Schlossbrücke zwischen Basilius-Insel und Altstadt. Aktivisten aus dem Umfeld von Pussy Riot haben früher oft ihre Parolen auf die Brücken gemalt, immer kurz vor dem Hochklappen.

Gondeln
Die Stadt hat viele Inseln. Auf einer liegt die Residenz, in der Wladimir Putin gelegentlich ein Privat-Wochenende verbringt. Putin fährt nicht gern Auto und auch nicht gern Boot, er fliegt am liebsten mit dem Hubschrauber ein – genau wie Roman Abramowitsch, der gleich eine ganze Insel für sich allein hat. Überhaupt: Ins Boot steigen in Sankt Petersburg nur Verliebte oder Touristen. Kleine Boote fahren im Sommer die ganze Nacht durch die Kanäle unter einigen der 320 Brücken hindurch, vorbei auch an Puschkins letzter Wohnung. Man kann auf den Booten essen. Große Tragflügelboote fahren hinaus zum prunkvollen Schloss Peterhof, dreißig Kilometer außerhalb der Stadt.

Essen
Graf Grigorij Alexandrowitsch Stroganoff soll das Rezept für Bœuf
Stroganoff Ende des 18. Jahrhunderts in Sankt Petersburg erfunden haben, als er unerwartet Besuch bekam und sämtliche Küchenreste in die Pfanne warf – so lautet jedenfalls eine Version. Das Gericht ist nicht schwierig zuzubereiten: Man brät Filetspitzen vom Rind oder Kalb mit Zwiebeln und je nach Rezept verschiedenen anderen Zutaten an; immer gehören Dill, saure Sahne und Gewürzgurken dazu, egal ob in die Sauce gemischt oder als Extra-Beilage. In Sankt Petersburg hat jeder Koch sein eigenes Familienrezept, man kann es bedenkenlos in jeder Kneipe bestellen, es misslingt nie. Mein bestes Bœuf Stroganoff aß ich im Restaurant des »Hotels Astoria«, einem alten Grandhotel mit gut erhaltenen Jugendstil-Möbeln, in dem schon Rasputin und etwas später Lenin aßen. In der Sauce waren Pilze, wahrscheinlich war auch der Cognac darin besonders gut, der Kartoffelbrei war frisch gestampft, die Gewürzgurken waren als Salat angemacht, dazu wurden Wodka und Bier gereicht. 39 Bolshaja Morskaja, Tel. 007/812/494 57 57, www.thehotelastoria.com.

Schlafen
Hotels in Sankt Petersburg und Moskau sind vergleichsweise teuer. Wer über Veranstalter wie zum Beispiel Studiosus Reisen Flug und Hotel bucht, bekommt in der Regel günstigere Raten. »The Brothers Karamazov« ist ein kleines Mittelklasse-Hotel, um die Ecke vom Dostojewski-Museum gelegen und teilweise mit Möbeln aus dem
19. Jahrhundert eingerichtet. Sehr gutes, preiswertes Hotelrestaurant. 11-Ay, Sotsialisticheskaya st., Tel. 007/812/ 335 11 85, DZ ab 125 Euro, www.karamazovhotel.com.

Unbedingt
Die Eremitage besuchen. Man steht zwar auch im Winter zwei Stunden in der Schlange vor der Kasse (wenn man ohne Reiseführer kommt), aber an diesem neben dem Louvre und dem Prado bedeutendsten Kunstmuseum Europas führt kein Weg vorbei.

Auf keinen Fall
Wein bestellen, der ist teuer in Russland. Oft meint man, der Preis auf der Karte werde wohl für die ganze Flasche gelten, und erschrickt dann mächtig bei der Rechnung.

Fotos: Alexander Gronsky/Institute Illustration: Jean Jullien