Die Jungen haben ihre Ohrringe mit den falschen Brillanten abgenommen und in der Umkleidekabine gelassen, in den Hosentaschen ihrer Jeans. Jemand könnte ansonsten in einem Zweikampf mit der Hand an dem Ring hängen bleiben, das Ohrläppchen würde reißen. Es geht feurig zu in den Zweikämpfen, der Fußball läuft geradlinig und schnell. Freitagmorgen um halb elf, auf einem Nebenplatz mit Kunstrasen, trainiert vor einem einzigen Zuschauer die Reservemannschaft des FC Barcelona, 18-, 19-jährige Jungen. Ihnen wird gesagt: Euch gehört die Zukunft. Hier war Leo Messi lange Jahre ein Mitspieler, ein Freund. Und auf einen Schlag ist er nur noch ein ferner Held aus dem Fernsehen, ein Gerücht. »Man hört, er ist jetzt mit Ronaldinho und Deco befreundet. Und mit denen scheint er sogar ins Café zu gehen!«, sagt Toni Calvo, der die Ohrringe mit den falschen Brillanten nach dem Training wieder angesteckt hat, einen an jedes Ohr. Sie spielten vier Jahre zusammen in Barças Jugendmannschaften. Toni Calvo und Leo Messi, der eine rechts, der andere links im Angriff, waren die besten Freunde. »Moment«, sagt Toni Calvo, »Freunde: auf dem Fußballplatz. Leo ging nicht ins Kino oder sonst wohin.« Er schien nicht einmal eine Jeans zu besitzen, sagt Toni Calvo, der selbst natürlich eine trägt, eine mit modischen Rissen. Leo Messi sah man nur im Trainingsanzug, weil ihn nur Fußball inte-ressierte. Und jetzt, mit Ronaldinho und Deco, den besten Fußballern der Welt, soll er angeblich ins Café gehen, wiederholt Toni und seine Augen fragen: Stimmt das? Kann das sein? Einmal alle zehn Jahre vielleicht gebiert der Fußball so einen Jungen. Der eben noch auf dem Nebenplatz vor einem einzigen Zuschauer trainierte und im nächsten Moment von den Besten der Welt als einer der ihren akzeptiert wird. Pelé war 17, als er im WM-Finale 1958 den Ball mit der Brust stoppte, über einen Gegner hinweg- lupfte und – man spürte schon, dass etwas Großes begonnen hatte – volley ins Tor schoss. Nicht jedes Wunderkind wird ein Pelé. Michael Owen, das letzte Kind, das das Publikum bei einer WM im Sturm eroberte, ist heute, acht Jahre später, einer unter vielen Klassestürmern. Niemand weiß, ob Leo Messi in fünf Jahren noch immer einzigartig sein wird. Es spielt auch keine Rolle. Mit 18 wird er bei dieser WM in Deutschland verkörpern, was uns alle am meisten anrührt: ein Kind, das in all seiner Unschuld unter Erwachsenen triumphiert. Es ist nur eine Weltreise von 200 Metern, um vom Nebenplatz ins Stadion Camp Nou des FC Barcelona zu gelangen, dem frisch gebackenen Champions-League-Sieger. 91 000 Zuschauer breiteten dort am 1. Mai 2005 die Arme aus, als könnten sie ihn drücken. Leo Messi, mit 13 ausgewandert aus Rosario/Argentinien, um es zu schaffen als Fußballer, hatte gerade gegen Albacete sein erstes Profitor geschossen, 1,69 Meter klein, 17 Jahre, der jüngste Torschütze in der hundertjährigen Vereinsgeschichte. Ronaldinho hob ihn auf seine Schultern und sagte: »Schaut auf diesen Jungen. Er wird uns alle übertreffen.« Wer ihn spielen sieht, kann sich dem Eindruck nicht entziehen, eine Offenbarung zu erleben. Leo Messi dribbelt in irrsinnigem Tempo. Von der Abruptheit seiner Drehungen werden die Gegner aus dem Gleichgewicht geschleudert und er läuft einfach weiter, vom Staunen der Zuschauer begleitet, den Ball immer noch eng am Fuß wie einen sechsten Zeh. »Gebt ihm zur WM meine Nummer 10!«, flehte Diego Maradona, der Leo Messi anrief, nachdem er ihn das erste Mal hatte spielen sehen. »Ich zittere immer noch«, sagte Messi am Morgen nach dem Telefonat. Einige Tage vor dem Training des Reserveteams wird in einer Suite von Barças Stadion zu einer Buchpräsentation geladen. Barças Schatz heißt das Werk – die erste Biografie über Leo Messi. Mit 18. Es ist ein erstaunlich detailliertes Werk. Leos Geburt wird auf nicht weniger als vier Seiten beschrieben. »Der erste Schreck, den er seinen Eltern versetzte« (er fiel vom Fahrrad) ist ebenso gewürdigt wie die Einschätzung der Kindergärtnerin (»Er mochte Murmeln sehr gerne«).
In der Suite werden einige Reden gehalten; der Verlagsleiter kommt zu Wort, der Biograf, der Trainer, der Vater. Dann spricht Leo Messi. Er hat rote Wangen und einen zu langen Pony wie ein Kind, das sich vor dem Friseur fürchtet. Wie immer, wenn er über sich selbst reden muss, fängt er jeden Satz mit »Ich bin eine Person, die ...« an. Das beschreibt die innere Sperre recht gut, die er zu überwinden hat. Er dankt ergeben für die Ehre, Buchheld sein zu dürfen, er blickt auf den Boden und ist fertig, ehe die Minute um ist. Frank Rijkaard, der Trainer von Barças Profis, tritt neben ihn. Er tut, wonach wohl den meisten im Saal instinktiv zumute war: Er nimmt Messi in den Arm. Ein Junge. Als Leo Messi zwölf ist, misst er 1,43 Meter. Neunjährige sind größer. Der Arzt in Rosario verschreibt Wachstumshormone. Sonst werde er die 1,60 Meter nie erreichen. Die Behandlung kostet 900 Dollar im Monat. Der Vater, der in einem Stahlwerk arbeitet, denkt, es müsse doch einen Fußballklub geben, der sich an den Kosten beteiligt, bei Leos Talent. Sie finden in ganz Argentinien keinen. Ein Agent vermittelt ein Probetraining in Barcelona. »Da stand ich dann eines Abends mit meinem Team der 14-Jährigen«, erinnert sich Rodolfo Borrell, Messis erster Trainer beim FC Barcelona, ein kräftiger Mann, der sorgsam darauf achtet, sich nur alle drei Tage zu rasieren, »alle um die 1,70 Meter groß und da kommt dieser Knirps, 30 Zentimeter kleiner als alle anderen.« Im Prinzip, sagt Borrell, spielte er an jenem ersten Abend schon so wie heute: »Immer los aufs Tor, niemals feige. Ohne es zu wollen, beleidigt er seine Gegner geradezu durch die Leichtigkeit, mit der er vorbeizieht.« Barça, der Klub, braucht ein halbes Jahr, um sich selbst zu überzeugen, dass das nicht Wahnsinn ist: Dann geben sie ihm einen Vertrag, der seiner Familie eine Wohnung und dem Vater ein Einkommen garantiert. Leo Messi ist 13. Er ernährt nun seine Eltern und die drei Geschwister. Seinetwegen zieht die ganze Familie nach Barcelona. Nach einem Jahr kehrt die Mutter mit den zwei kleinen Geschwistern aus Heimweh zurück nach Argentinien. »Gehen wir alle?«, fragt der Vater und Leo, 14, sagt schüchtern, er wolle es bei Barça doch schaffen. Er ist immer noch ein Junge, der vor den Augen der ganzen Welt herzergreifend weint, als er im März mit einem Muskelfaserriss im Champions-League-Spiel gegen Chelsea ausgetauscht werden muss. Und er war zugleich schon immer ein Erwachsener, »mit dem Hunger, der Entschlossenheit und vor allem mit unendlicher Bescheidenheit«, wie Borrell sagt, der seit zwölf Jahren bei Barça Talente entdeckt, der sagt, Iniesta, Xavi, Puyol, Cesc, die alle spanische Nationalspieler wurden, »sind das Normale bei einem Klub wie Barça. Das Anomale ist Leo.« Am ersten Trainingsabend schon, so Toni Calvo, der mit dem Taschentuch einen Tribünenplatz sauber gewischt hat, um sich zu setzen, habe jeder sehen können, dass Leo Messi einzigartig ist, oder, wie Toni das sagt, »fue la hostia«: Er war die Hostie. »Einmal, in der A-Jugend gegen Espanyol, musste Leo wegen eines Jochbeinbruchs mit einer Gesichtsmaske spielen. Nach 15 Minuten kam er zur Seitenlinie: ›Trainer, ich sehe nichts mit der Maske, ich setze sie ab, nur zehn Minuten, okay?‹ In den nächsten zehn Minuten hat er dann zwei Tore geschossen und der Trainer konnte ihn auswechseln.« Kürzlich, sagt Toni Calvo, schickte Messi noch einmal eine SMS, wie es gehe, lange nicht geredet. Der Stolz, Freund und Partner gewesen zu sein, mischt sich mit der schmerzhaften Ahnung, zurückgelassen zu werden. Am Anfang, sagt Toni Calvo und lächelt, hätten sie gedacht, Leo sei stumm. »Er war so schüchtern, er sagte nie etwas. Aber klar, mit dem Auto und dem Selbstvertrauen, das er inzwischen hat, wird er lockerer sein, wenn er sich mit Ronaldinho im Café trifft.« Ist es so? Am nächsten Tag trainiert Leo Messi nach einer Verletzungspause zum ersten Mal wieder mit Barças Profi-Elf. Ronaldinho, Deco, all die Helden des Fußballs, begrüßen ihn mit Applaus. Leo Messi senkt den Blick. Sein Gesicht ist knallrot angelaufen.