Wenn es um die Reise des Moai geht, findet Edgard Hereveri große Worte: »Der Moai lehrt uns, dass der Mensch sich umbringt, wenn er die Natur zerstört. Er ist für uns keine bloße Steinfigur, der Moai wird die Bewohner der Osterinsel mit der Welt verbinden.« Hereveri, Leiter der Tourismusbehörde, sagt auch: »Je länger man nachdenkt, desto klarer wird, dass die Geschichte der Osterinsel zugleich die Geschichte der Menschheit ist.«
Vermutlich hat er recht, denn weshalb sonst sollte man sich die Mühe machen, eine dieser berühmten, zerbrechlichen, tonnenschweren Steinstatuen mehr als 15 000 Kilometer zu transportieren – von der Osterinsel nach Paris? »Von der Osterinsel träumt jeder, aber die wenigsten kommen hin«, sagt Pietro Beccari, Kommunikationschef des französischen Unternehmens Louis Vuitton, das die Reise des Moai nach Paris finanziert. Eine spröde Vulkaninsel, ein Drittel so groß wie Ibiza, der südöstlichste Ausläufer Polynesiens. Rapa Nui, wie die 4900 Bewohner sich selbst, ihre Sprache und ihre Heimat nennen, ist die abgelegenste Insel der Welt, auf der Menschen leben: fünf Flugstunden nach Osten zum Mutterland Chile, sechs im Westen bis Papeete, Tahiti; als Nachbarn die Pitcairn-Inseln mit 50 Nachfahren der Bounty-Meuterer, 2500 Kilometer entfernt. Rapa Nui ist kein Südseeparadies, gibt es nur Steppe und Klippen. Und immer mehr Touristen.
Sie kommen, um über 900 Moai zu staunen; wuchtige Steinfiguren mit eckigem Schädel und markantem Kinn, die die polynesischen Ureinwohner auf der Insel hinterlassen haben. Die Moai wurden zwischen 900 und 1600 nach Christus aus dem Tuffsteinbruch am Krater Rano Raraku gemeißelt, mehrere hundert von ihnen warten unvollendet in Nischen am Hang, andere sind hinabgerutscht und stehen bis zum Ohrläppchen eingesunken schief im Gras.
Die restlichen Moai liegen über die Insel verstreut; man muss nur stundenlang über die knirschenden Grasmatten wandern, durch wilde Lupinen, deren Samenkapseln bei jeder Berührung wie Klapperschlangen rasseln, und vorbei an Pferden ohne Halfter, die sich zu Tausenden überall auf der Insel frei bewegen; dann taucht immer wieder ein Moai auf, versteckt zwischen Guave-Büschen. Die wenigsten Moai stehen aufrecht.
»Arenga ora ata te puna«, lebendiges Gesicht der Ahnen, werden die Moai auch genannt. Offenbar stellten sie Bildnisse von Herrschern und Kriegern dar und wachten über die Dörfer. Aufgereiht auf steinernen Sockeln, den »Ahu«, bildeten sie einen fast vollständigen Ring um die Insel.
»Wir konnten nicht verstehen, wie Menschen, die weder über dicke Holzbalken zur Herstellung irgendwelcher Maschinen noch über kräftige Seile verfügten, dennoch solche Bildsäulen aufrichten konnten«, schrieb Jacob Roggeveen, Admiral eines niederländischen Handelsschiffes, an Ostern 1722 in sein Tagebuch; er nannte den seltsamen Ort Osterinsel und reiste nach vier Tagen wieder ab. Auf die Frage, die er sich stellte, gibt es auch 287 Jahre später keine einheitliche Antwort.
Sobald ein Moai Augen aus weißer Koralle und schwarzem Obsidian eingesetzt bekommen hatte, verfügte er über »Mana«, eine spirituelle Energie. Der Überlieferung nach soll sie die Moai befähigt haben, allein vom Steinbruch zu den Sockeln zu laufen.»Mana, das ist eine natürliche Kraft, die das unendliche Universum verkörpert und uns erlaubt, die Welt zu verändern«, erklärt Pedro Edmunds Paoa, bis vor Kurzem Bürgermeister der Rapa Nui.
Er pflegt eine enge Verbindung zu seinen Ahnen und bedauert, dass sein iPhone nur in Hanga Roa, dem einzigen Ort der Insel, Empfang hat. Gemeinsam mit Edgard Hereveri, dem Leiter der Tourismusbehörde, ist Paoa nach Paris gereist, um den richtigen Platz für den Moai zu finden: die Tuileriengärten des Louvre. Mit der Ausstellung möchten die Rapa Nui die Einzigartigkeit ihrer Kultur unterstreichen.
Von den vielen Theorien, die Wissenschaftler und Abenteurer über die Osterinsel verfassten, ist die des amerikanischen Geografen und Pulitzerpreisträgers Jared Dia-mond am populärsten. In seinem Bestseller Kollaps – Warum Gesellschaften überleben oder untergehen schrieb er 2005 vom Ökozid auf Rapa Nui: Die rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen führte die Statuenbauer vor rund 400 Jahren in den Untergang.
Glaubt man dieser These, dann ereignete sich auf Rapa Nui ein moderner Sündenfall – die Vertreibung des Paradieses durch den Menschen. Die Rapa Nui rodeten für ihren Figurenkult alle Palmenwälder, die einst auf der Insel wuchsen, um die Statuen vom Steinbruch bis zu ihren Sockeln zu transportieren; Erosion, Hunger, Bürgerkrieg und Kannibalismus folgten. Diamond nennt es ein Lehrbeispiel für das, was uns angesichts der Klimaerwärmung bevorstehen könnte. »Es war nicht so einfach, wie Diamond und andere Forscher es hinstellen«, sagt dagegen Claudio Cristino, Direktor des Instituts für Ozeanografie der Universität von Chile.
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»Die Theorien schenken dem Einfluss des Menschen zu viel Beachtung.« Erdbeben, Tsunamis, eine Dürre oder Ratten, die alle Palmensamen fraßen – das alles kann eine Rolle gespielt haben, auch das Auftauchen der Europäer.
Jahrhundertelang waren die Rapa Nui isoliert, nach ihrer Entdeckung häuften sich die Besuche: Sklavenhändler, Ausbeuter und mitgebrachte Krankheiten sorgten dafür, dass 1877 noch 111 Rapa Nui überlebt hatten.
Mit der Führungsschicht starben die Bräuche, christliche Missionare erstickten die mündliche Überlieferung, die Rongo-Rongo-Schrift kann niemand mehr lesen. Chile übernimmt 1888 die Insel und macht sie zur Schaffarm: Die chilenisch-schottische Gesellschaft zur Ausbeutung der Osterinsel lässt 70 000 Tiere anliefern, sperrt die Bewohner hinter Stacheldraht, verwandelt Steinhäuser in Weidemauern. 1966 erhalten die Rapa Nui chilenische Bürgerrechte.
Seit zwei Jahrzehnten wird es auf Rapa Nui turbulent: 1986 baut die NASA den Flughafen zur Landebahn für das Space-Shuttle aus und schafft Anschluss an die Außenwelt. Kevin Kostner verfilmt 1994 in Rapa Nui den Untergang der Urbevölkerung als Action-Abenteuer; er lässt viele Millionen Dollar auf der Insel, legeres Insel-Feeling trifft Hollywood. Heute landet täglich eine Boeing 767, Kreuzfahrtschiffe setzen tausend Passagiere auf einmal über. 1990 kamen 6000 Besucher auf die Osterinsel, letztes Jahr 60 000, alle, um einmal die Moai zu sehen. Der größte Arbeitgeber für die Einwohner ist das Sorgenkind der Archäologen.
»Die Moai sind unser Reichtum, aber auch eine Warnung, wie empfindlich das Gleichgewicht unserer Insel ist«, sagt Paoa. Eine von Louis Vuitton gegründete Rapa-Nui-Stiftung will die nachhaltige Entwicklung der Insel fördern. Vom Recyclingkonzept für den Müll bis zur Restaurierung einzelner Moai.
»Wir mussten einen Moai finden, bei dem wir spürten, dass
er bereit ist für die Reise; für uns macht das einen spirituellen Unterschied.« Vor Paoa liegt, mit dem Gesicht nach unten, der Auserwählte im Lavageröll. 5,20 Meter lang, geschätzte 22 Tonnen schwer. Eigentlich wollten die Rapa Nui lieber einen anderen schicken, aber zusammen mit der klimatisierten Transportbox wäre das Paket etwa hundert Tonnen schwer gewesen, zu schwer für ein Militärflugzeug. Der nächste Moai zeigte bei der Untersuchung Risse im Innern – zu hoch das Risiko, ihn schwankendem Luftdruck auszusetzen. Also Moai Nummer drei. Steinexperten und Archäologen klopfen, messen und werten aus: Er ist transportfähig.
»Wir werden mit den Moai identifiziert, bald vertritt einer von ihnen Rapa Nui in der Welt«, sagt Paoa. Sieben Wochen wird die Statue unterwegs sein, so lange dauert die Reise mit Flugzeug und Schiff nach Paris und zurück. Im April 2010 wird der Moai für zwei Wochen in den Tuileriengärten des Louvre stehen, dort, wo seit Jahrhunderten die Ahnen der französischen Könige flanieren. Sie werden sich viel zu erzählen haben. Und wir werden staunen.
Fotos: Mazen Saggar, Antoine Jarrier