Ohne Zweifel wird derzeit in Paris die Mode neu erfunden. Zum Beispiel im Showroom von Balenciaga in der Rue Cassette im Stadtteil Saint-Germain: Auf dicken und Schwindel erregend hohen Plateausohlen an Riemchenpumps, die trotzdem zart wirken, schwebt ein Engel herein – in einer Jacke, die an das Rokoko erinnert und deren wogende, steif abstehende Lamellenrüschen die Rockschöße in eine Blüte verwandeln. Ein zierlicher Kopf erhebt sich über der Krause am Kragen. Das cremefarbene Organzakleid in Trapezform greift den Entwurf auf: mit mehrlagigen Serviettenvolants und tief angesetzten Glockenfalten. Mit dieser Sommerkollektion hat Nicolas Ghesquière, der bereits seit zehn Jahren für Balenciaga entwirft, die Modewelt begeistert wie nie zuvor. Und er ist nicht der Einzige: Die Generation der Modemacher zwischen Anfang und Ende Dreißig, die alle schon Erfahrungen gesammelt haben, lässt sich endlich bei Formen, Linien und Volumen auf Experimente ein. Die Designer entwerfen selten unter eigenem Namen, den außerhalb der Branche ohnehin kaum jemand kennen würde. Zu den Ausnahmen gehören der Australier Martin Grant mit seinem Gespür für die Raffinesse der Couture der fünfziger Jahre und der Italiener Giambattista Valli, der vor ein paar Jahren noch für Emanuel Ungaro kreierte und gerade sein eigenes Label etabliert.
Viel häufiger jedoch arbeiten die Designer, um in der Branche überleben zu können, für eines der Pariser Couturehäuser, an deren Glanzzeit sich aber kaum noch jemand erinnert und deren Namen man lange Jahre oft nur mit Parfumetiketten verband. Wie Phönix aus der Asche kehren plötzlich Namen wie Lanvin und Rochas, Nina Ricci oder Givenchy wieder ins Bewusstsein der Mode zurück – dank der Designer Alber Elbaz und Olivier Theyskens, Lars Nilsson oder Riccardo Tisci. Auf einmal entsteht ein Zusammenspiel von Kreativität, Schneidertradition und den riesigen Archiven der Couture-Häuser, das es so bisher nicht gab: Die Modemacher wühlen sich durch die Entwürfe der Vergangenheit, um Ansatzpunkte für die Mode der Zukunft zu entdecken.
Neu daran ist, dass keiner der Designer der Versuchung erliegt, das Vergangene einfach zu kopieren oder gar eins zu eins zu übernehmen. Denn der Vintage-Gedanke hat ausgedient. Das dekorative Einzelstück aus der Vergangenheit stand am Anfang dieser Entwicklung, einst ausgelöst von Julia Roberts’ Secondhand-Valentino-Kleid in der Oscar-Nacht 2001. Der nächste Schritt waren die Kleider, die sich Naht für Naht an den Originalen vergangener Dekaden orientierten: Designer nahmen ein altes Modell als Vorlage und ließen es detailgetreu nachschneidern. Der einzige Unterschied zur Vorlage: Die Stoffe waren neu. Auf Dauer war diese Art zu arbeiten aber nicht befriedigend. Heute werden die alten Entwürfe nur noch studiert und als Grundlage verwendet. Es entsteht etwas ganz Neues: zum Beispiel weich fallende Röcke mit runden Falten, die mittels raffinierter Schnittkonstruktionen und Unmengen von Stoff neue Silhouetten ergeben.
Dieses Phänomen lässt sich besonders gut an der aktuellen Yves-Saint-Laurent-Kollektion beobachten. Ihr Designer Stefano Pilati, der als Creative Director schon unter Tom Ford gearbeitet hatte, wurde nach dessen Weggang vor zwei Jahren als Übergangs-lösung betrachtet. Doch der Italiener bewies schon mit seiner ersten Kollektion, dass er eine eigene Handschrift besitzt und sie, im Gegensatz zu Ford, auch mit den Themen des großen Yves zu verbinden weiß. Für diesen Sommer greift er sogar Saint Laurents geliebtes Spanien-Thema auf, das er als Welt der Matadores skizziert. Zu knappen Caprihosen mit Torero-Taille kombiniert er Bolero-Jacken und Blusen mit üppiger Rüschenfront. Dazu passen heute auch gebauschte Ballonröcke aus Strukturstoffen – mit Bommeln am Saum. In Paris elektrisiert die Mode wieder!
Sie haben es getan!
Zehn Jahre nach der letzten Revolution in der Mode wagen die Pariser Designer den entscheidenden Schritt: Sie entdecken die Schönheit wieder.