Verfahrene Situation

Der Weg ist das Ziel? Von wegen! Navigationsgeräte bringen uns auf kürzestem Weg an jeden Ort. Einziges Problem: Wir verlieren allmählich unseren Orientierungssinn.

Sich zu verirren hat eigentlich eine schöne Tradition: Odysseus brauchte zehn Jahre, bis er wieder nach Hause fand, Kolumbus hat sich auf den Weltmeeren erfolgreich verfranst, und wenn nicht Hänsel und Gretel ziellos im Wald zum Hexenhäuschen gelangt wären, würde die Hexe dort immer noch ihren Kindermastbetrieb unterhalten. Mit Navigationsgerät jedenfalls wären diese wundersamen Fügungen nie geschehen. Mit Navigationsgerät wäre es aber auch nicht passiert, dass ich in Budapest einen ganzen Nachmittag lang ein bestimmtes Hotel gesucht hätte. Und zwar einen Nachmittag, an dem eigentlich Kaffeehausbesuch, Jugendstilbad und Markthalleneinkehr vorgesehen waren. Stattdessen bewegte ich mich zwischen unaussprechlichen Ausfallstraßen und Sackgassen, überquerte alle Viertelstunde die Donau auf einer anderen Brücke, assistiert von meiner Freundin, die sich an den ADAC Straßenatlas 1998 klammerte.

Zu den gefühlten Eigenheiten dieser Atlanten gehört es, dass die gesuchten Straßen und Orte meist allesamt im Falz liegen und damit in Unschärfe verschwinden. Budapest jedenfalls war ein einziger Falz. Als wir uns schließlich schon länger durch industrielle Randgebiete bewegten, sagte ich: »Freundin, deine Navigation in Ehren, aber nächste Woche kaufe ich dafür ein Spezialgerät.« Meine Freundin schmollte daraufhin auch nur pro forma. In Wirklichkeit war sie froh, nicht mehr als Generalverantwortliche für sämtliche Irrwege herhalten zu müssen, auf die ich im Affekt einbog.

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In 20 Millionen deutschen Pkws hängen heute Navigationsgeräte. Nachts an der Ampel sieht man ringsum ihr mattes Leuchten, und Gebrauchtwagenhändler rümpfen schon leicht die Nase, wenn sie ein Auto ohne kaufen sollen. Fast jeder zweite Fahrer lässt sich seinen Weg soufflieren, glaubt nicht mehr an Beifahrer, Beschilderung oder die Bürger am Straßenrand. Seitdem ist der Weg kein Weg mehr, sondern eine Abfolge von rechts und links, und irgendwo auf dieser Strecke bleibt auch unser Orientierungssinn, findet Johann Nowicki, der beim ADAC Experte für Navigationsgeräte ist. »Früher hat man sich wenigstens kurz mal auf der Karte umgesehen, wusste ungefähr, wo man sich bewegt, und konnte hinterher erzählen, welchen Weg man gefahren ist.«

Natürlich muss auch Herr Nowicki zugeben, dass von kundiger Software gelenkt ins Unbekannte zu rauschen sicherer ist, als mit dem Atlas auf den Knien zu fummeln. Meistens zumindest, denn die Dame aus Pfaffenhofen an der Ilm, die am Dreikönigstag ihrem Navigationsgerät bis in eine komplett überflutete Unterführung vertraute, erzählt bestimmt etwas anderes. Oder der Rentner aus der niedersächsischen Gemeinde Himmelpforten, der dem »Biegen Sie jetzt rechts ab« bis auf ein Bahngleis folgte, oder der Fahrer eines 230-Tonnen-Schwertransporters, der mit einem riesigen Abflussrohr auf dem Schlepper bei Krefeld von der Autobahn auf eine viel zu kleine Straße abbog, weil das sogenannte Navi es so wollte. Acht Stunden dauerte die Bergung.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Autor dank Navigationsgerät plötzlich einen neuen Weg zu sich nach Hause entdeckt.)

Weil die Software der allermeisten Navigationsgeräte nur Wege für normale Autos ausspuckt, häufen sich Fälle, in denen große Laster damit rechts und links der Autobahn in Unterführungen und Gassen stecken bleiben und ramponierte Brücken und geschändete Kreisverkehrsmittelpunktkunst hinterlassen. Bei einer ADAC-Studie meldeten jedenfalls 60 Prozent der befragten Gemeinden eine Zunahme dieses Navigationsvandalismus, und die Polizei sandte auch schon dring-liche Bitten an die Gerätehersteller: Man komme sonst vor lauter Lkw-Entwirren zu gar nichts mehr.

Mein erstes Navigationsgerät ist leicht zu bedienen, es hat einen Saugnapf, ein Kabel und die immer gleich freundliche Bordstimme. Sie stellt eine Art Halböffentlichkeit her: Wenn sie mich anspricht, erschrecke ich einerseits jedes Mal, aber ich fühle mich andererseits, während sie schweigt, so beobachtet, dass ich sehr aufrecht sitze und Lieder aus dem Radio nur leise mitsumme. Als ich kürzlich aus einem Parkhaus ans Licht bog, sprach die Stimme: »Bitte fahren Sie bei der nächsten Gelegenheit auf eine digitalisierte Straße.« Trotz des bedenklichen Inhalts klang dieser Satz vollkommen ungefährlich. Das macht das Suchtpotenzial der Navigationsgeräte aus: Sie wiegen den Fahrer allzeit in steriler Geborgenheit, jedes noch so blöde Falschfahren wird ohne Tadel ausgebügelt, jeder Weg wird so oft neu berechnet, wie es eben nötig ist. Navigationsgeräte sind wie gute Grundschullehrerinnen.

Später schließlich berechnete die Software zufrieden die restliche Zeit bis nach Hause. Diese genaue Ankunftszeit gab es einst nur bei Bahn und Flugzeug. Das Ende einer Auto-fahrt aber war zeitlich immer eher ausgefranst. Deswegen hatte man bei einer Fahrt ohne Zeitdruck mit dem Auto von A nach B angenehm selten das Gefühl, zu spät zu sein. Nun aber bestimmt das Gerät beim Start die Ankunftszeit, und jeder Ampelstau, jeder Halt an der Eisdiele, ja sogar nur gemütlicher Fahrstil wirft einen zurück. So kam es, dass ich bei der Fahrt zum Geburtstagskaffee meiner Mutter die 75 PS voll ausreizte, um jene Minuten wieder aufzuholen, die ich an der Tankstelle liegen gelassen hatte.

Aber nicht nur das war neu, die Software lotste mich auch vier Abfahrten zu früh von der A95. Da war ich diesen Weg zwölf Jahre lang exakt gleich gefahren, habe immer an denselben Stellen ausgekuppelt, automatisch nach dem Blitzer geschaut und mich vorausschauend eingefädelt - bis zu diesem Samstag. Das Navigationsgerät kannte einfach den klügeren Weg nach Hause, ganze vier Minuten kürzer. Er führte über interessante Moränenhügel und durch wilde Dörfer, ich fuhr nicht heim, sondern ins Ungewisse. Ausschalten konnte ich das Gerät nun nicht mehr, ich wäre verloren gewesen. Den Ort, in dem ich aufgewachsen war, erreichte ich schließlich von der ganz falschen Seite, schlich quasi über die Hintertür herein, und statt der Friedfertigkeit, mit der ich sonst vor der Garage parkte, war ich konfus - aber das vier Minuten früher als bisher.

Ich hätte natürlich für diesen Weg keine Satellitenhilfe gebraucht, aber das ist ein weiteres Suchtsymptom - ziemlich bald kommt einem der Satellit unentbehrlich vor, auch auf bekannten Routen soll er dabei sein, weil man ihm im Zweifelsfall mehr zutraut als sich selbst. Genau das dürfte auch in Zukunft das Problem sein: Wir werden zu dumm für Navigationsgeräte. »Die Geräte brauchen erstens besser aktualisiertes Kartenmaterial und zweitens vor allem mündige Fahrer«, fordert deswegen Professor Schreckenberg, Stauexperte an der Uni Duisburg. »Die Geräte profilieren sich heute, indem sie den Fahrer bei jeder Meldung sofort umleiten wollen oder Wege suchen, wo es keinen Weg gibt.«

Wer nicht abwägen kann, ob die angebotene Stauumfahrung die größere Tortur wird, oder wer nur die Koordinaten seines Ziels kennt, aber nicht weiß, dass dazwischen Pässe warten oder eine Zugverladung die schnellere Alternative wäre, der macht sich zum Opfer des Bordcomputers. »Wir müssen die Angebote des Navigationsgeräts auf ihre Plausibilität prüfen, aber das können wir nur, wenn wir eine ungefähre Ahnung davon haben, wo wir hinwollen und welche Alternativen es gibt«, sagt Schreckenberg. Gemeinsam mit einem führenden Hersteller arbeitet er an der Zukunft der Navigation. Die soll dann ihre Nutzer besser aufklären und individuell leiten. Denn wenn Hunderten Autofahrern zur selben Zeit von der Stau-Autobahn die gleiche Umfahrung empfohlen wird, führt das nur wieder zu Stau.

(Auf der nächsten Seite lesen Sie, wie die Zukunft der Navigation aussehen könnte.)

Die Geräte von morgen sollen die Autos klug verteilen und dabei immer genauer die aktuelle Straßenlage berücksichtigen. Die Zukunft übrigens dürfte auch schon wieder das Ende der Navigationsgeräte bedeuten, wie sie sich heute noch auf den Armaturenbrettern stapeln. Die Dienstleistung wird als GPS-Programme in unsere Telefone und Handcomputer wandern, und damit breitet sich die topografische Vollversorgung auch auf Fahrradfahrer und Fußgänger aus. Schon heute kann man in Innenstädten Menschen beobachten, die mit einem Display vor der Nase übers Trottoir wanken und sich dann und wann abrupt nach links und rechts wenden, als würden sie den Anweisungen einer Schatzkarte folgen. Sie wollen aber nur zum Bahnhof.

Schon heute können die Geräte auch weit mehr als nur den Weg weisen, sie erklären im Auto auf Nachfrage, an welchem Kulturdenkmal man gerade vorbeirast, und stellen es in 3-D dar. Sie warnen, wenn man zu schnell fährt, und sagen unerlaubterweise auch Radarfallen voraus. Ge-rade wird auch mit kleinen Kameras in den Navigationsgeräten experimentiert, die Schilder am Straßenrand lesen sollen, damit auch ein Parkverbot oder ein drohendes Gefälle von sanften Stimmen an den Fahrer weitergegeben werden. Jeder Ort und alle seine Geheimnisse werden uns auf Knopfdruck geflüstert.

Dabei ist eigenes Navigieren doch so männlich. Nicht nur die sternpeilenden Seefahrer fand ich immer toll, sondern zum Beispiel auch meinen Vater, der nie zur See fuhr, aber mit uns in den Urlaub. Überallhin wusste der den Weg, egal ob es an die Adria oder nach Dänemark ging, er hatte alle Autobahnkreuze und Alpenpässe im Kopf. Natürlich haben wir auch nie einen Stau umfahren, sondern standen immer mittendrin. Aber Stau konnte mein Vater auch gut, jedenfalls kenne ich die Begriffe »Brenner« und »Himmelarschundzwirn« seit Kindertagen nur als fröhliche Verbündete. Waren wir angekommen, waren endlich Zelte aufgebaut und Wohnwagen rangiert, kamen von allen Ecken des Campingplatzes die Väter zusammen, diese Helden des Familientransports.

Sie standen mit Bier und Mückenstichen am Grill und brummten wundersame Sätze, in denen die Worte Zirler Berg und Inntalautobahn, Kamener Kreuz und Tauerntunnel die Hauptrolle spielten, sie diskutierten aus dem Kopf Alternativrouten und weitere Reisewege. Das Wissen um den richtigen Weg war gutes altes Väterwissen. Die Väter von morgen bekommen die Wege vorgesagt. Die Kinder von morgen werden auch nie mehr »Ist es noch weit?« rufen, weil sie die Antwort selber vorn ablesen können. Sie werden nicht mehr in einer unwägbaren Fremde zwischen Kinderzimmer und Meer sein, sondern immer ganz genau: irgendwo.

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Bei seinen Recherchen stellte Max Scharnigg, 30, auch fest, dass es immer noch Freunde des gepflegten Irrwegs gibt - trotz oder wegen der Navigationsgeräte. Jedenfalls haben die Berliner Kathrin Passig und Aleks Scholz mit Verirren gerade ein ganzes Buch über die Vorzüge von Umwegen und Falschfährten geschrieben. Sollte sich dieser Trend durchsetzen, müssten die Navi-Hersteller in Zukunft eine Shuffle-Taste einbauen - ein Knopfdruck, und man wird an einen Zufallsort geleitet.

Fotos: Tim Walker /Art+Commerece, Marc Glassner