Der menschliche Daumen gehört zweifellos zu den größten Errungenschaften der Evolution. Er ermöglichte uns Altweltaffen, allerlei Gerätschaften in die Hand zu nehmen und uns mit geballten Fäusten zur Krone der Schöpfung empor zu kämpfen. Und so hilfreich der Daumen beim Keulenschwingen war, so nützlich ist er nun beim Bedienen von Smartphones. Ob man schnell eine SMS schreibt, die Einkaufsliste für morgen ins Handy tippt oder einen Tweet absetzt: Der Daumen hat einen Großteil der Kommunikation an sich gerissen.
Allerdings ist der Daumen dafür nicht ausreichend qualifiziert. Streng genommen, sagen Evolutionsbiologen, ist er nicht einmal ein Finger. Ein Schreibmaschinenjahrhundert lang hatte er bloß die Aufgabe, Leertasten zu betätigen, das bekam er noch hin. Aber auf winzigen Handy-Tastaturen die richtigen Buchstaben treffen?
Deshalb gehören Annehmlichkeiten wie die automatische Textvorhersage zu den Segnungen der Gegenwart – also die Vorschläge des Handys, ein Wort zu vollenden, das man gerade angefangen hat zu tippen. Dafür dürfen wir Dean Hachamovitch dankbar sein. Er entwickelte mit der Autokorrektur sozusagen den Großvater der Textvorhersage-Features, ohne die heute kein Handy mehr auskommt. Vor einem Vierteljahrhundert – also im Pleistozän des Internetzeitalters – machte sich der junge Microsoft-Mitarbeiter Gedanken darüber, wie man dem Menschen das Schreiben am Computer erleichtern könnte.
Hachamovitch arbeitete damals an Microsofts Textverarbeitungssoftware MS Word mit, die bald ihren Siegeszug durch Büros und Heime in aller Welt antreten und unser Schreibverhalten revolutionieren sollte. Word hatte bereits eine Funktion zur automatischen Textergänzung, mit deren Hilfe bestimmte Buchstabenfolgen nach dem Drücken einer Sondertaste durch Symbole oder Wörter ersetzt wurden.
Hachamovitch erweiterte diese Funktion, um das Programm automatisch häufige Fehler korrigieren zu lassen. Seine Idee war so simpel wie genial: Jedes gerade getippte Wort wurde nach dem Betätigen der Leertaste automatisch geprüft und gegebenenfalls korrigiert.
Das klingt einfacher, als es ist. Denn die Software-Entwickler mussten dazu ein Lexikon kompilieren, das – anders als ein herkömmliches Wörterbuch – alle denkbaren Wortformen eines Eintrags berücksichtigte. Außerdem mussten sie eine Liste der häufigsten Falschschreibungen erstellen, die das Programm automatisch als solche erkennen und verbessern sollte. Zu diesem Zweck ließ Microsoft Probanden auf Maschinen tippen, die keine Korrekturmöglichkeit zuließen, und kompilierte so die häufigsten Fehler. Seitdem wird aus »dsa« wie von Zauberhand »das«, aus »der Sekretätin« eine »Sekretärin« und aus »Geidcht« ein »Gedicht«. Nach wie vor aktualisieren Microsoft-Mitarbeiter die Liste der häufigsten Tippfehler, allerdings nur sporadisch, denn das Gros der Fehler wird über die viel umfangreichere Rechtschreibprüfung markiert.
Die Autokorrektur in Word war eine Revolution, die mit einem Schlag für mehr soziale Chancengleichheit sorgte als Jahrzehnte missglückter Rechtschreibreformen. Doch wie jede Revolution hatte auch diese eine Schattenseite: Die Autokorrektur neigte bald dazu, sich selbstständig zu machen.
Der Ärger begann mit einem Mann names Bill Vignola. Der Microsoft-Nutzer beschwerte sich in den Neunzigerjahren bei Microsoft darüber, dass die Autokorrektur jedes Mal »Bill Vaginal« aus seinem Namen machte. Bald darauf gab es Ärger an der Wall Street: Die Investmentbank Goldman Sachs empörte sich darüber, dass ihr Name von Word stets in »Goddamn Sachs« geändert wurde. Als schließlich EU-Mitarbeitern auffiel, dass in offiziellen Dokumenten »Cooperation« erstaunlich oft durch »Cupertino« ersetzt wurde, war der »Cupertino-Effekt« geboren, der das zusammenhanglose Ersetzen eines Wortes durch einen ähnlich klingenden Begriff beschreibt. Besonders peinlich: In seiner deutschen Version kannte Word 95 das Internet noch nicht und schlug stattdessen »Internat« vor.
Dean Hachamovitch und sein Team merkten, dass sie ein zusätzliches Nutzerlexikon mit Eigennamen und ungewöhnlichen, aber legitimen Begriffen anlegen mussten. Marion Kremer, die damals bei Microsoft an der deutschen Version der Rechtschreibsoftware arbeitete, erinnert sich mit Vergnügen daran, dass ihre Arbeit »einen besonders hohen Unterhaltungswert hatte, wenn wir auf lustige oder skurrile Beispiele stießen«. Dass »Bußzeit« zuerst durch »Brutzeit« ersetzt wurde, dürfte Mönchen nicht gefallen haben.
Dass »Barack« durch »Baracke« ersetzt wurde, korrigierte man glücklicherweise rechtzeitig vor dem Amtsantritt des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Auch die Bundeskanzlerin, die Regierungsgeschäfte ja gern per SMS erledigt, wird Microsoft dankbar sein, dass ihr zusätzliche transatlantische Verstimmungen so erspart bleiben.
Die größte Herausforderung war die Frage, ob auch vulgäre Begriffe in die Korrekturliste aufgenommen werden sollten – und wenn ja, welche. Dafür legte Microsoft zwei Listen an. Die A-Liste enthielt Wörter, die nicht vorgeschlagen werden sollten, weil sie vulgär oder aus anderen Gründen problematisch sind. Die unterhaltsame Liste, die dem SZ-Magazin vorliegt, verzeichnet rund fünfzig Begriffe, darunter so kreative Beschimpfungen wie »Arschtrompete«, »Kotzfresse« und »Zyklopenfotze«, bei deren Buchstabierung der User auf sich allein gestellt war. Das »Arschleder« hingegen fand die Gnade der Korrektoren, da es sich dabei um den Lendenschutz der Bergleute handelt.
Die B-Liste versammelt rund 800 Wörter, die zwar nicht ausgeschlossen werden, aber in der Liste der möglichen Korrekturvorschläge erst weit hinten kommen sollen: von »Analverkehr« bis »Ziege«, vom »Allerwertesten« über den »Kefirtrinker« bis zur »Windschattenfahrerin«.
So sorgten die wackeren Microsoft-Mitarbeiter um Dean Hachamovitch dafür, dass wir beim Kommunizieren erst gar nicht auf obszöne Gedanken kommen. Der Daumen ist ja kein Stinkefinger.