Der Preis des Fortschritts? Die Schülereltern eines Gymnasiums in Südbayern erfuhren kürzlich in einem Rundschreiben, dass er 400 bis 500 Euro beträgt: Etwa 300 Euro für ein iPad der fünften Generation, dazu eine Schutzhülle ab zehn Euro, plus Geräteversicherung, die zwischen 69 und 169 Euro kostet. Mit dieser Ausstattung könne ihr Kind im kommenden Schuljahr eine iPad-Klasse besuchen. Ein Apple-Gerät müsse schon sein, »damit Kompatibilität des Betriebssystems gegeben ist«, wie es in dem Schreiben hieß, auf dem sich auch der Link zum Apple-Store sowie zu einem Versicherungsanbieter fand.
Fast überall in Deutschland werden inzwischen digitale Klassen angeboten. Manche Lehrkräfte sehen die mobilen Geräte als perfektes Lernmittel, das den Unterricht grundlegend verändert, weil die Schüler nicht länger passiv abschreiben, was an der Tafel steht, sondern am eigenen Bildschirm konzentriert und motiviert mitarbeiten. In Thüringen und Hamburg wurde beschlossen, alle Schüler mit Tablets auszustatten. »Bring your own device«, lautet die Devise, die klingt, als würden alle Kinder ihr Lieblingsspielzeug mitnehmen. Tatsächlich handelt es sich um eine Strategie, um Deutschlands Klassenzimmer möglichst günstig aufzumöbeln – bezahlen sollen die Tablets nämlich die Eltern.
Wie passt das zusammen mit der großspurigen Ankündigung der Politik, ab sofort mit fünf Milliarden Euro die Schulen zu digitalisieren? Wie verträgt es sich mit dem Neutralitätsgebot der Schulen, dass eine Einrichtung Eltern vorschreibt, das Gerät eines bestimmten Herstellers zu kaufen? Und gab es in Deutschland nicht auch einmal die sehr fortschrittliche Idee der Lernmittelfreiheit – dass also Lernmittel wie Schulbücher kostenlos sein sollten, um jedem Kind, unabhängig vom Einkommen seiner Eltern, Bildung zu ermöglichen?
Fragen über Fragen, die zum Beispiel Anja Karliczek beantworten könnte, die Bundesbildungsministerin. Sie hat in monatelangen Verhandlungen mit den Bundesländern den Digitalpakt entwickelt. Aus ihrem Haus heißt es allerdings, es sei Ländersache, wie in den Schulen mit digitalen Geräten gearbeitet werde. Das bayerische Kultusministerium antwortet, jenes Gymnasium verstoße mit seiner iPad-Vorschrift mitnichten gegen das Neutralitätsgebot, weil »es hier keine Vorgaben des Staates gibt«. Auch die Lernmittelfreiheit sei gewahrt, die beziehe sich ja nur auf Schulbücher. Bei iPads handle es sich nicht um »schulbuchersetzende digitale Medien«. Das bedeutet: Weil iPads per Definition des Kultusministeriums keine Lernmittel sind, geht es in Ordnung, wenn die Eltern dafür bezahlen müssen. Zudem könnten sie ja frei entscheiden, »ihr Kind gegebenenfalls nicht in die iPad-Klasse zu schicken, wenn sie nicht privat den Aufwand für die Anschaffung des Geräts tragen möchten«.
Schon richtig: Diese Freiheit haben die Eltern in Thüringen oder Hamburg nicht. Dennoch hat der Frankfurter Politikwissenschaftler Tim Engartner, der seit Jahren den wachsenden Einfluss von Unternehmen auf die Schulen und deren Lehrpläne beobachtet, seine Probleme mit dem Vorgehen in Bayern. Dass ein Gymnasium den Eltern vorschreibt, welches Tablet sie kaufen sollen, sei »nichts anderes als Product-Placement«. Obendrein werde die Lernmittelfreiheit unterhöhlt.
Es gelangt mehr oder weniger plumpe PR ins Klassenzimmer
Natürlich weiß Engartner, dass dieses hehre Prinzip, das auf die Revolution 1848 zurückgeht, in der Praxis nie vollständig umgesetzt wurde. Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg erheben einen Eigenanteil von den Eltern. Und da sind die Atlanten, Taschenrechner und Ausflüge ins Theater oder Schullandheim nicht inbegriffen. In Berlin offenbart sich gerade die Kehrseite der Lernmittelfreiheit: Bis letzten Sommer mussten Eltern 100 Euro jährlich für die Schulbücher ihre Kinder zuzahlen. 73 Euro schoss das Land zu. Nun wurde der Anteil der Eltern abgeschafft. Das Land stockt aber seinen Zuschuss nicht in derselben Höhe auf – sodass künftig pro Kind mindestens 25 Euro weniger für Schulbücher zur Verfügung stehen.
Auch wenn die IHK-Bezirkspräsidenten zwischen Garmisch und Flensburg seit jeher betonen, wie wichtig die Ressource Bildung für den Standort Deutschland sei, sind die Schulen seit Jahren unterfinanziert. Vielerorts kämen veraltete Lehrbücher zum Einsatz, sagt Tim Engartner. Oder das Kontingent an Kopien für Lehrkräfte sei begrenzt. Diese Mangelwirtschaft habe dazu geführt, dass zunehmend Unternehmen als Sponsoren für Lernmittel einspringen und sogar eigene Unterrichtsmaterialien entwerfen, die an Schulen eingesetzt werden. So gelangt mehr oder weniger plumpe PR ins Klassenzimmer. Der Unterrichtsmappe Mit Verstand groß werden – richtig essen und bewegen!, herausgegeben von McDonald’s, konnten Grundschüler entnehmen, dass ein Hamburger mit Pommes im Prinzip nichts anderes sei als ein Apfel, nämlich Fastfood. Beides könne man schnell und aus der Hand essen. In der unterrichtsbegleitenden Broschüre Mobil im Klimaschutz der Volkswagen AG stand, dass es noch etliche Jahre dauern werde, bis »man sich ganz vom Öl verabschieden kann«. Bis dahin werde VW aber »die Potenziale bestehender Motoren und Antriebe« optimieren. In Nordrhein-Westfalen versorgte der Energiekonzern RWE Schüler mit Arbeitsblättern, die unter anderem über die Vorzüge des Braunkohle-Tagebaus aufklären. Engartner kann Dutzende solcher Beispiele nennen. Er fürchtet, dass mit der Digitalisierung nun ein neues Einfallstor für die Unternehmen geschaffen wurde.
Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, weiß aus ihren Treffen mit den Bildungsministern der Länder, dass viele von ihnen die Lehrkräfte für rückständig halten, was digitale Medien angeht. »Die sind der Meinung, dass die Unternehmen endlich frischen Wind in die Schulen bringen.«
Laut Hoffmann weht er bereits kräftig, die Digitalisierung der Schulen sei »massiv von der Industrie gesteuert«. In Fortbildungen würden Lehrerinnen und Lehrer von Microsoft und Apple darin geschult, wie sie deren Produkte im Unterricht einsetzen können. Anfang März 2019 wurde bekannt, dass die Schulen in Brandenburg über eine Cloud vernetzt werden, die Mitarbeiter des Hasso-Plattner-Instituts entwickelt haben, einer privat finanzierten IT-Fakultät an der Universität Potsdam, benannt nach dem Gründer des Softwarekonzerns SAP. Aufsehen erregte auch die Firma Calliope, hinter der unter anderem Google, die Telekom-Stiftung und Microsoft stehen. Calliope hat Tausende Minicomputer an Schulen verschenkt, mit denen bereits Drittklässler das Programmieren lernen sollen. Gesche Joost, eine der Gründerinnen, beteuert zwar, dass es keinen Kontakt der Unternehmen mit den Schulen geben werde »und sie kein operatives Interesse damit verfolgen«. Aber natürlich geht es den Geldgebern darum, dass die künftigen Arbeitskräfte, die in den Schulen heranwachsen, ihren Anforderungen gerecht werden. Der Wunsch von Calliope sei es, »dass digitale Bildung ab der Grundschule als fester Baustein im Curriculum verankert und von den Ländern angemessen budgetiert wird«, teilt Joost auf der Firmenwebseite mit. Mit anderen Worten: Das Privatunternehmen versucht mit seiner Schenkung, die Lehrpläne an den Schulen zu verändern. Bisher waren dafür die Kultusministerien verantwortlich.
Trotz solcher Gratisaktionen fürchtet die Gewerkschafterin Ilka Hoffmann, dass mehr noch als bisher die Kinder aus ärmeren Familien in der digitalen Schulwelt abgehängt werden könnten. Das Manager Magazin berichtete Anfang des Jahres über Eltern, die Achtjährige auf sogenannte Coding-Workshops schicken. Dort lernen sie das Programmieren, bauen Roboter oder hantieren mit Virtual-Reality-Brillen. »Die getunte Elite« wurden die Kinder in dem Artikel genannt, und künftige »Digitalhelden«. Der Befund: »Die Schulen versagen, Eltern nehmen die Sache zunehmend selbst in die Hand.« Die Anbieter der beschriebenen Kurse sind Privatfirmen, manche der Kurse kosten jeweils mehrere Hundert Euro. Immerhin kam eine Mutter zu Wort, die das Treiben kritisch sieht: Es wäre schöner, wenn Kinder das alles in der Schule lernen würden. »Man weiß ja nicht, ob die Konzerne die richtigen Werte vermitteln.«
Aber um welche Werte geht es? Auch um die des Apple-Gründers Steve Jobs, dessen eigene Kinder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Apple-Geräten hatten und der laut seinem Biografen Walter Isaacson viel Wert auf gemeinsame Abendessen und Gespräche über Bücher und Geschichte legte? Genau das ist ja auch die Aufgabe der Schule: abzuwägen, ob und wann der Einsatz von Computern und Tablets Schülern tatsächlich nutzt, um ihr späteres Leben zu bewältigen. Zu hinterfragen, wo die Digitalisierung der Welt wirklich ein Segen ist – und wo sie die Freiheit der Menschen einschränkt und die Müllberge wachsen lässt. Aber diese Fragen kann die Schule kaum glaubwürdig beantworten, wenn sie gleichzeitig als Kundenberater auftritt und Eltern vorschreibt, welches Gerät sie kaufen sollen. Dann wird die Schule zum Media-Markt.