Cindy Kiara nimmt ein Buch zur Hand und streicht langsam über den Buchrücken. Sie trommelt sanft mit den Fingerspitzen auf den Einband, hält kurz inne und blättert dann behutsam durch die Seiten. Sie knickt das Papier und schaut dabei eindringlich in die Kamera. »Ich lese jetzt ein Gedicht von Friedrich Schiller«, flüstert sie und lächelt. Dann hebt sie die Hand und berührt kurz die Kamera, ganz so, als würde sie Jemandem den Kopf streicheln. Laut Youtube haben rund 70.000 Menschen Cindys Lesung angeklickt. Der Großteil von ihnen ist jedoch nicht wegen der geschliffenen Reime des deutschen Schriftstellers hier. Sie sind auf der Suche nach dem Kribbeln. Und Cindy Kiara kann es ihnen verschaffen.
Die BWL-Studentin aus Münster betreibt ASMR – kurz für Autonomous Sensory Meridian Response - und unter diesem Stichwort finden sich auf YouTube mehr als dreizehn Millionen Videos, in denen Menschen vor der Kamera Dinge machen, die auf den ersten Blick banal erscheinen. Sie falten Handtücher, kämmen Haare, blättern durch Kataloge, bügeln, schminken, putzen – und flüstern dabei unentwegt. Ihre Zuschauer sind auf der Jagd nach einem Gefühl, das in der Szene »Tingles« genannt wird. Bei einigen Menschen lösen das Knistern und Flüstern nämlich eine Art Kribbeln aus, das sich vom Hinterkopf über den Nacken und zum Oberkörper hin ausbreitet. Manche empfinden den Effekt als angenehm, andere sprechen von Braingasms – Orgasmen fürs Gehirn. Superstar der ASMR-Community, die Russin mit YouTube-Nicknamen Maria Gentle Whisper, drückt es so aus: »Es ist, als würde warmer Sand über Dir ausgeschüttet werden. Er kitzelt Dich am Kopf und dann an den Schultern. Es ist wie eine Gänsehaut im Gehirn.«
Maria Gentle Whisper ist eine der Anführerinnen des weltweiten Internettrends. Ihre Beiträge locken an die 80 Millionen Zuschauer an. Dagegen ist Cindy Kiara mit rund 800.000 Klicks ein Fliegengewicht. Erst nach und nach breitet sich das Flüsterfieber auch nach Deutschland aus. »Wir werden aber mehr. Ich schätze, dass es mittlerweile rund 50 ASMR-Produzenten in Deutschland gibt.« Sie selber sei vor rund fünf Jahren per Zufall auf ein Flüstervideo im Netz gestoßen. »Ich habe nach Entspannungstechniken und Einschlafhilfen gesucht«, erinnert sie sich. ASMR funktioniere für sie besser als Meditation. Seitdem lädt die Masterstudentin unter dem Bloggernamen CocoASMR selber ASMR-Videos hoch. Dabei hat sie sich auf Rollenspiele spezialisiert. Die kämen bei ihren Zuschauern besonders gut an. Manchmal ist Cindy Bibliothekarin oder Arzthelferin, dann wieder Friseurin oder Rezeptionistin. Über rund 45 Minuten hinweg simuliert die Masterstudentin eine alltägliche Situation im Flüsterton: »Ich führe meine Zuschauer in eine vertraute, positive Umgebung«, erklärt sie. Das mache es für viele Menschen einfacher, die Tingles zu verspüren und einzuschlafen.
Jimmy Kimmel betreibt ASMR in seiner Sendung, IKEA wirbt mit raschelnder Bettwäsche, Kate Hudson und Eva Longoria machen ASMR-Performances
Dr. Giulia Poerio von der Fakultät für Psychologie an der Universität Sheffield ist eine der wenigen Forscher, die sich bislang wissenschaftlich mit dem Phänomen auseinandergesetzt haben. Sie glaubt, dass es nicht die Geräusche allein sind, die den körperlichen Effekt auslösen, sondern ein Gefühl der Intimität. »Gute ASMR-Künstler transportieren immer einen Eindruck von menschlicher Nähe und Zuneigung. Sie halten Blickkontakt und sprechen den Zuschauer direkt an.« In ihrer aktuellen Studie untersucht die Psychologin die physischen Auswirkungen von ASMR wie Veränderungen der Herz- oder Atemfrequenz, Durchblutung und Hautleitfähigkeit. Nach Auswertung der ersten Ergebnisse geht Poerio davon aus, dass ASMR mit Synästhesie verwandt sein könnte. Bestimmte Reize lösen eine unerwartete sensorische Reaktion aus. Manche Synästheten hören zum Beispiel Musik und sehen währenddessen Farben. Ein Wochentag hat einen bestimmten Geruch, ein Ton wird zu einem Bild und manche spüren Berührungen, die sie bei anderen nur sehen.
Im Gegensatz zur Synästhesie, die höchstens bei vier Prozent aller Menschen vorkommen, scheint es sehr viele ASMR-empfängliche Menschen geben. Aus dem Internet-Trend ist ein Hype im echten Leben geworden. So widmete Late Show Moderator und US-Promi Jimmy Kimmel dem Phänomen bereits ein ganzes Segment seiner Sendung, IKEA wirbt in den USA mit einem extra ASMR-Spot für seine (raschelnde) Bettwäsche und Vorhänge und Schauspielerinnen wie Gal Gadot, Kate Hudson und Eva Longoria veröffentlichen ASMR-Performances für das Modemagazin W-Magazine. In New York City hat der Flüsterwahn es bereits ins Nachtleben geschafft: Im sogenannten Flüsterhaus werden die Augen verbunden, dann wird mit Folie geknistert, mit den Fingern auf einer Dose getrommelt, die Zunge geschnalzt. Manchmal werden Teilnehmer mit einer Feder gestreichelt oder leicht mit den Fingerspitzen im Gesicht berührt.
Mit sexueller Erregung hat ASMR nur wenig zu tun, betont Cindy CocoASMR. Vor ein paar Jahren, als die Technik noch nicht bekannt war, sei es oft zum Problem geworden: »Da gab es einige Follower, die uns in die Ecke der Erotik gestellt haben«, sagt sie. Allerdings scheinen Menschen, die Flüstern zur sexuellen Stimulation nutzen, nur einen Bruchteil der Followerschaft auszumachen: Nach einer Umfrage der Swansea Universität fühlten sich lediglich 5 Prozent von ASMR sexuell erregt. Über 90 Prozent der Befragten schauten die Videos dagegen zum Einzuschlafen; 70 Prozent gaben gleichzeitig an, dass ASMR ihnen dabei helfe, Stress zu bewältigen.
»Genau da wollen wir ansetzen«, sagt Dr. Poerio. »Ich möchte herausfinden, ob ASMR ein hilfreiches Werkzeug in der Psychotherapie werden könnte und wenn ich unsere ersten Ergebnisse so betrachte, bin ich ganz zuversichtlich«. Wie bei der Meditation könne die Aktivierung des parasympathischen Nervensystems bei ASMR dazu beitragen, den Fluss von Stressbotenstoffen im Körper zu stoppen und Gehirnwellen zu verlangsamen. Cindy Kiara erhält immer wieder Nachrichten von Followern, die berichten, dass ihre Videos bei Panikattacken oder Burn-Outs helfen. »Das ist für mich das Schöne an ASMR – ich habe nie das Gefühl, es zum Zwecke der Selbstdarstellung zu tun. Ich tue es für die anderen. Und wenn ich höre, dass ich einem Fremden durch einen schweren Moment geholfen habe, motiviert mich das.«