Die falsche Scham

Linda Evangelista enthüllt, dass die Nebenwirkungen eines Schönheitseingriffs der Grund dafür sind, dass sie sich seit Jahren versteckt. Dabei könnte ihr Schritt in die Öffentlichkeit ein wichtiges Signal sein. 

Linda Evangelista 2009 in Paris.

Foto: Reuters

»Ich bin, wie die Medien es beschrieben haben, ›nicht mehr wiederzuerkennen‹.« Das sind die Worte, mit denen Linda Evangelista, seit den 90er-Jahren und bis heute eines der bekanntesten Supermodels der Welt, vor wenigen Tagen auf Instagram ihr derzeitiges Erscheinungsbild beschrieb.

Die 56-Jährige wandte sich mit einer Texttafel an die Öffentlichkeit, auf der sie von ihren Erfahrungen mit der »CoolSculpting«-Prozedur berichtete, einer kosmetischen Kälteanwendung zur Verminderung von Fettgewebe. Vor über fünf Jahren habe sie sich damit behandeln lassen und sei seitdem »brutal entstellt«. Die Anwendung habe bei ihr statt Fettzellen zu verringern, diese vermehrt. Evangelista erklärte, sie habe eine sogenannte »paradoxe adipöse Hyperplasie« (PAH) entwickelt, eine seltene Nebenwirkung, vor der man sie nicht gewarnt habe. Selbst zwei schmerzhafte Korrekturoperationen hätten nichts an ihrer »dauerhaften Deformation« ändern können. Diese habe nicht nur ihre Lebensgrundlage zerstört, sondern sie auch »in einen Kreislauf tiefer Depression, Traurigkeit und Selbstverachtung gestürzt«. Mit einer Klage gegen den kalifornischen Anbieter Zeltiq Aesthetics wolle sie nun ihre Scham loswerden und mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen.

»Ich finde es toll, dass du deine Geschichte wieder für dich zurückeroberst«

January Jones in einer Botschaft an Linda Evangelista

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Auf Instagram erhielt Evangelista daraufhin viel Zuspruch. Zahlreiche Kolleginnen und Größen der Modewelt wie die Models Naomi Campbell, Tatjana Patitz, Carolyn Murphy oder der Modedesigner Marc Jacobs (der selbst sehr offen mit seinen Schönheits-Eingriffen umgeht) meldeten sich unter dem Post zu Wort – und bekundeten ihre Liebe und Unterstützung für Evangelista und betonten deren Mut, ihr Schweigen zu brechen. »Ich finde es toll, dass du deine Geschichte wieder für dich zurückeroberst. Diese Stärke und Tapferkeit steht über jedem oberflächlichen Äußeren. Eine Ikone ist eine Ikone ist eine Ikone«, schrieb die Schauspielerin January Jones.

Evangelistas Schicksal ist dramatisch. Und wenn, wie in der Anklage geschrieben, die Firma Zeltiq bereits vor Jahren ihre Investoren über das Risiko der PAH-Entwicklung informierte, niemals jedoch ihre Endkonsumenten und -konsumentinnen, so wäre das ein Verbrechen und drstaisch zu bestrafen. Was im besten Fall auch anderen Opfern helfen würde, die »unter den schmerzhaften, verhärteten Massen der PAH leiden, die aus der Haut hervorragen, wo immer CoolSculpting durchgeführt wurde«, wie Evangelista beschreibt.

Der Fall zeigt aber auch weitere Missstände auf - und die sind eher gesellschaftlicher Art. Wir leben in einer Zeit, in der vielerorts endlich ein inklusives, natürlicheres Körperbild propagiert wird, in dem Dehnungsstreifen, Körperbehaarung, unreine Haut und Fettpolster vollkommen ok sind. Körper und Gesichter verändern sich. Sie altern, sie können dicker oder dünner werden. Das ist natürlich – und müsste trotzdem noch häufiger ausgesprochen und gezeigt werden. Es ist aber auch ok, gegen solche Veränderungen (mit künstlichen Mitteln) zu arbeiten.

Beides liegt also im Zeitgeist: »Body Acceptance« wie auch »My body, my choice«. Wenn dann aber etwas schiefläuft bei der Schönheitsoperation, wird ist das in der gesellschaftlichen Wahrnehmung so gar nicht akzeptiert. Wir erinnern uns an Renée Zellweger oder Demi Moore, beides Frauen über 50, deren teilweise deutliche optische Veränderung jeweils medial heiß diskutiert bis bösartig zerrissen wurden.

Dass mit Linda Evangelista eine der schönsten Frauen der Welt sich vor fünf Jahren dazu berufen fühlte, gegen vermeintliche Fettzellen künstlich vorzugehen, mag man traurig finden. Es ist aber ebenso verständlich für eine Person, die ihr gesamtes Leben für ihr Äußeres geliebt, gebucht und bezahlt wurde und deren gleichalte Kolleginnen ganz mühelos auf neuen Höhepunkten ihrer Karrieren zu stehen scheinen: Am vergangenen Sonntag führten Naomi Campbell, Amber Valletta und Kate Moss die gehypte »Fendace«-Show von Fendi und Versace an. Früher am Wochenende eröffnete Cindy Crawford das Unterwäsche-Spektakel des Jahres, die neueste Show von Rihannas Lingerie-Label auf Amazon Prime. Und nur wenige Tage davor enthüllte Claudia Schiffer im Düsseldorfer Kunstpalast eine Ausstellung über sich selbst (und die Modefotografie der 90er-Jahre).

Linda Evangelista teilte zuletzt vor über zwei Jahren ein aktuelles Bild von sich – und das gefiltert und mit Hutkrempe über dem halben Gesicht. Ansonsten befüllt sie ihren Instagram-Account vor allem mit nostalgischen Bildern aus Karriere-Hochzeiten in den 90er-Jahren. Ihr letztes Bild auf Getty scheint von 2015 zu sein und auch bei der Supermodel-Reunion zur Versace-Show im September 2017 vermisste man sie schmerzlich. Ihr bleibt die Hoffnung, dass ein Anbieter kosmetischer Eingriffe, der nicht über deren Nebenwirkungen aufklärt, dafür zahlen muss.

Zu hoffen wäre auch, dass der Fall Evangelista dazu beiträgt, die Risiken solcher Eingriffe stärker bekannt zu machen. Und mehr noch, dass der Druck auf älter werdende Menschen, irgendeinem Schönheitsideal zu entsprechen, endlich nachlässt. Wie schön wäre es, wenn Linda Evangelista sich irgendwann traut, wieder in die Öffentlichkeit zu treten – und das genau so positiv empfangen wird, wie jetzt ihre Worte.