Die Fernsehserien hängen mir zum Halse heraus. Es muss ein schleichender Prozess gewesen sein. Eigentlich bin ich ein mittelaltes Kind meiner Zeit: Ich habe mich daran gewöhnt, mich danach zu definieren, welche Serien ich liebe (The Office, Crazy Ex-Girlfriend, Better Call Saul) und welche nicht (Game of Thrones, Breaking Bad, Mad Men).
Auf meine Freund*innen, meine Familie und mich trifft ganz bestimmt zu, was die Arctic Monkeys voriges Jahr in ihrem Song Star Treatment so formulierten: »Alle treiben auf einem Hausboot den endlosen Strom großartigen Fernsehens hinunter.« Wir haben uns häuslich darin eingerichtet, den Großteil unserer Zeit der Kunstform Fernsehserie zu widmen.
Wir planen unsere Abende danach – oder wir müssen gar nicht planen, denn meine Frau und ich haben »unsere Serie«, die wir, sofern nichts Unerwünschtes einschlägt in die Abendgestaltung wie Elternabende oder Verabredungen (ächz), fast automatisch einschalten. Wir sprechen über die Familienverhältnisse von Fleabag mit einer Offenheit und Teilnahme wie über unsere eigenen; wir gleichen unser eigenes Leben und unsere eigenen Werte ab, wenn wir auf der Sofakante den Schicksalen der Vorstadt-Zombies von Santa Clarita Diet folgen.
Aber dann geschah etwas Seltsames. Ich sah ein Foto der Schauspielerin Kirsten Dunst wie sie in einem Jeansanzug, mit Zigarette in der Hand und aufgeplustertem Haar, die Füße in schmutzig-weißen Sneakern hochgelegt, inmitten von Pappkartons sitzt. Und in der Bildunterschrift stand, sie sei der Star von On Becoming A God In Central Florida, über eine Frau, die in der US-Provinz der 90er in ein betrügerisches Schneeballsystem verstrickt wird. Alles daran sprach mich an, und ich dachte: Oh, wie toll, endlich wieder ein Film, auf den ich mich freuen kann. Keine Ahnung, wie ich darauf kam, es würde sich um einen Film handeln, für den ich das Haus würde verlassen können – vielleicht Dunsts fantastische Filmstar-Pose, oder der sperrig-archaische Filmtitel (Von der Gottwerdung in Zentralflorida?), vielleicht die Erwartung, die Geschichte eines betrügerischen Pyramidensystems sei nun wirklich schnell erzählt. Zwei Suchmaschinen-Klicks später wusste ich: Nein, es ist wieder nur eine weitere verdammte Serie. Und ich war überrascht über meine Verärgerung und meinen Stoßseufzer: Wann hört das endlich auf?
Wenn nun nämlich dieses Florida-Ding mit Kirsten Dunst ein Film wäre, müsste ich nur darauf warten, bis er ins Kino kommt, und dann schauen, ob ich es in den ein, zwei Wochen, die er in meiner Nähe läuft, dorthin schaffe. Ob ich die Serie je sehen werde, hängt hingegen davon ob, bei welcher Streaming-Platform sie aufschlägt, ob ich dort einen Zugang habe oder mir ein Monatsticket leisten will, und so weiter. Aber das ist nur das eine.
Das zweite ist: Ich sehne mich danach, dass Geschichten wieder nach anderthalb bis zweieinhalb Stunden zu Ende sind. Auf der künstlerischen Seite sehne ich mich nach der Disziplin, die es von den Macher*innen erfordert, mir eine komplexe Geschichte an einem und nicht an Dutzenden, wenn nicht Hunderten Abenden zu erzählen.
Auf der persönlichen Seite sehne ich mich danach, nicht immer wieder so viel investieren zu müssen in das schier endlose Treiben und Leiden und Leben von fiktiven Personen, mit denen ich von der Pilotfolge an auf Tage, Wochen oder Monate mein Wohnzimmer und meine Bildschirme teile. Ich merke, dass ich es müde bin, so viel Zeit mit einer Kunstform zu verbringen, die ihren Zenit womöglich überschritten hat.
Klar, die Kunstform Fernsehserie ist unglaublich abwechslungsreich und divers geworden in den letzten Jahren. Aber die meisten Serien handeln immer noch und immer wieder von Männern, die durch ihr destruktives Verhalten sich und andere in die Bredouille bringen (ggf. quälen oder töten) und dafür nach vielen, vielen Stunden dennoch eine Art Erlösung erfahren. Oder von Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen und am Ende über sich und die Verhältnisse hinauswachsen, aber menschlich bleiben. Klar, nichts und niemand hindert mich daran, ins Kino zu gehen, wo die Filme keineswegs schlechter, sondern eher vielfältiger als vor zehn, zwanzig Jahren sind (vom industriellen Zwang zur Neu-, Wieder- und Comicverfilmung abgesehen).
Aber meine plötzliche Serienmüdigkeit liegt auch daran, dass es so schwer ist, sich der Fernsehserie zu entziehen. Sie macht es einem so wahnsinnig einfach, sich in sie zu versenken. Der Tech-Autor John Brandon unterscheidet zwischen »lean-back entertainment« und »lean-in entertainment«, und zwar in einem drei Jahre alten Text, in dem er zu erklären versucht, warum er inzwischen mehr Fernsehserien als Filme schaut. Die Serie sei, da man sie zumeist auf Laptops oder Tablets schaue, »lean-in entertainment«, also eine Unterhaltungsform, bei der man sich nach vorne lehne, bei der man gewissermaßen schon rein körperlich eins werde mit dem Gerät und dem, was man darauf konsumiere. Filme hingegen betrachte man distanzierter, zurückgelehnt: »lean-back entertainment«.
Was für Brandon einen Vorzug der Fernsehserie bedeutet (die nach vorn gelehnte Zuschauerin ist engagierter, versenkter, beteiligter als die passiv zurückgelehnte), sehe ich inzwischen anders. Ich sehne mich nicht nur danach, dass die Geschichten schneller wieder aufhören, damit man neue anfangen kann. Ich frage mich auch, ob ich nicht zu lange zu versenkt war, zu beteiligt an fiktiven Leben, zu engagiert darin, mir selbst episodenweise die Teilnahme am Leben zu ersparen, das Dabeisein wegzuballern.
Ich habe viel gelernt und viel erfahren und viel gewonnen aus Fernsehserien, aber sie sind auch ideal, um sich zu betäuben. Und: auch dafür liebe ich sie. Oder: habe ich sie geliebt. Aber ich merke, ich bin bereit, die Dinge öfter wieder mit etwas mehr räumlicher Distanz zu betrachten, und zwar buchstäblich, im Kinosaal. Und auch im übertragenen Sinne: etwas kühleren Mutes, im Bewusstsein, dass die Vertiefung in zwei Stunden vorüber ist und sich nicht endlos fortsetzen lässt. Ich möchte mich wieder weniger betäuben und mehr anregen lassen, ich möchte das Aufwendige und Unpraktische des Kinobesuchs, weil ich womöglich genug herrliche Wir-essen-vorm-Fernseher-Abende hatte in den letzten Jahren.
Was die Kirsten-Dunst-Serie angeht, so habe ich mir mit ein paar Tricks die erste Gratisfolge auf der Website des amerikanischen Senders Showtime angeschaut. Für die weiteren Folgen müsste ich dauerhaft meinen Standort verschleiern und ein Abo abschließen, das kann ich mir nicht leisten. Als die erste Folge vorüber war, war ich traurig. Je länger sie her ist, desto mehr denke ich: das Stündchen hat eigentlich völlig gereicht, denn den Rest kann ich mir denken. Vermutlich wird sie sich nicht unterkriegen lassen und über sich und die Verhältnisse hinauswachsen. Und in der gewonnen Zeit gehen wir einen Film gucken.