Auf zur Nationalkur

Mehr miteinander zu reden, scheint in Deutschland gerade nötiger denn je. Und mehr zuzuhören wäre erst recht nicht verkehrt. Axel Hacke hat eine Idee, die für alle verpflichtend sein sollte.

Wie wäre es, jeder Deutsche hätte die gesetzliche Verpflichtung, sich einmal im Jahr für ein Klausur-Wochenende zu einem Gespräch mit anderen Deutschen einzufinden? Immer so zehn Leute aus Ost und West, Nord und Süd, hübsch gemischt: eine Pegida- Anhängerin aus Ostsachsen, ein Versicherungsmakler vom Starnberger See, ein Kiosk-Besitzer mit Migrationshintergrund aus Dortmund-Nord, eine Stuttgarter Verhaltenstherapeutin (gebürtig in Schwerin), ein Mitarbeiter des Katasteramtes in Bayreuth, ein Asylberechtigter aus Mossul, so etwa. Man bekäme eine Art Einberufungsbescheid. Und zwei Tage lang lautete die Aufgabe, sich über die eigenen Lebensgeschichten zu unterhalten, den anderen von sich zu erzählen – und vor allem: diesen anderen zuzuhören. Und alle müssen mitmachen.

Ich habe jetzt ungefähr fünfhundert Artikel über die Ergebnisse der Bundestagswahl gelesen, vor allem über die schockierende Tatsache, dass es »im Osten« ein so scheußliches Wahlergebnis gegeben hat. Interessant: »Der Osten« (vor allem: der Ostmann) tritt als Problem auf, über das sich Autoren, wie schon so oft, in großer Zahl beugen und fragen: Was ist denn nun schon wieder?

Übrigens, das stand auch in einem der fünfhundert Texte: Sagt ein junger Kerl bei einer Diskussion in Dresden: »Ich werde so lange zu Pegida gehen, bis ich einen Job und eine Frau gefunden habe.« Mann, wie wäre es mit der Bundesagentur für Arbeit und einer Anfrage bei parship.de?! Als Witzfigur taugt der Ostmann eben auch. Der Nordmann hat wenigstens seine Tanne; aber der Ostmann hat nichts, keinen Job, keine Frau, nur seinen Frust. Aber wenn man das in einem unserer Gesprächskreise hörte, fände man es nachvollziehbar, vielleicht sogar anrührend, nicht wahr? Wenn man es mal nur so auf sich wirken ließe, in dieser trotzigen Hilflosigkeit.

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Zusammengefasst: »Im Westen« nimmt man »den Osten« in der Regel entweder gar nicht wahr, weil man sich mehr für den Süden interessiert oder für sich selbst. Oder man sieht ihn als Klischee – was auf dasselbe hinausläuft. Oder man findet ihn schwierig.

Was, bitte, tut jemand, der auf sich aufmerksam machen will, in einem solchen Fall? Richtig, er macht Schwierigkeiten. Und die AfD ist eine Oberschwierigkeit. Wobei es natürlich für »den Westen« in diesem Fall den sehr nützlichen Nebeneffekt hat, dass er sich über »den Osten« beugen kann wie über ein Insekt unter dem Mikroskop: Er muss sich dann nicht die Frage stellen, warum die Mehrheit der AfD-Abgeordneten aus »dem Westen« kommt.

Nebenbei gesagt: Ich höre, wie schlimm es sei, dass die AfD nun im Bundestag sitze. Das finde ich nicht. Ich begrüße es. Das ist der große Vorteil von Demokratien: Sie unterdrücken Probleme nicht, sondern machen sie sichtbar. Man kann sich nichts vormachen. Vor allem: Gewisse Leute können nicht vier Jahre lang im Parlament von den großen Taten der Wehrmacht schwärmen. Da müssen sie zeigen, ob sie mehr auf dem Kasten haben. Oder eher nicht.

Noch mal zu diesen Gesprächskreisen. Ich glaube an die Macht des Redens und des Austauschs, und weil mancher Ostmann nichts über Flüchtlinge weiß und viele Münchner nichts von den Duisburgern, sage ich: Kommt in diese Gesprächskreise, die ihr feindselig und mit Wut beladen seid, und erzählt von eurem ganzen Warum-und- Wieso-und-Woher-und-Wohin! Erzählen, nicht brüllen! Das muss auch nicht, fällt mir gerade ein, am Wochenende stattfinden; da hat man oft schon was vor. Man könnte es auch so machen, dass der Arbeitgeber jeden von uns zwei oder drei Werktage freistellen muss dafür, gesetzlich garantiert. Wenn man auf Kur muss, ist das auch so, und jetzt muss halt das ganze Land dahin, zur Nationalkur.

Illustration: Dirk Schmidt