Wir waren auf dem Land. Unweit des Hauses fährt eine Lokalbahn den ganzen Tag von A. nach P. und wieder zurück, hin und her und her und hin. Man sieht sie vom Balkon aus durch die Wiesen gleiten, ein hübscher, beruhigender Anblick. Es gibt auch einen kleinen Bahnsteig am Wiesenrand. Wenn man einsteigen will in die Bahn, winkt man dem Zugführer. Möchte einer aussteigen, klopft er an dessen Türchen und sagt Bescheid.
Immer wenn die Bahn eine der kleinen Straßen in der Gegend kreuzt, tutet sie zweimal, das ist Vorschrift, ich verweise auf die Eisenbahnkreuzungsverordnung (EisbKrV) des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Dingsbums, in der Fassung vom zwoten achten zwoundzwanzig, Paragraf 36, »Sicherung durch Abgabe akustischer Signale vom Schienenfahrzeug aus«.
So tutet sich die Bahn durchs Land, man hört sie leise in der Ferne, aber wenn sie das kleine Asphaltband in der Nähe des Hauses zu überkreuzen sich anschickt, fällt man fast vom Stuhl, wenn man neu in der Gegend ist, so laut ist das. Nach Jahren hat man sich aber dran gewöhnt und bemerkt nur noch, wenn der Zug nicht hupt. Man fragt dann leicht verstört: Wo bleibt heute die Zehnvorzwölfbahn?
Wir hatten ein kleines Mädchen zu Besuch, zwei Jahre alt, der Sprache nur in Anfängen mächtig. Kaum war sie eine Stunde da, beherrschte die Kleine das Wort Zug. Schon beim ersten leisen Tuten von den Bergen aus hob sie den Kopf und sagte: Zug! Eilte ans Fenster, richtete den Finger auf die Tutebahn und rief erneut: Zug! Worauf ein Erwachsener sie auf den Arm nahm und erklärende Worte sprach: Ja, da ist der Zug, schau mal, der kleine Zug, da fährt er vorbei – und schon ist er weg, ja, ja. Unser Mädchen wiederum, die Augen weit gerundet, den Zeigefinger hebend, fasste den Bericht in einem Wort zusammen: Zug.
Nie hätte ich gedacht, dass es möglich sei, in ein Wort so viel Gefühl zu legen. Manchmal lag das Kind auf dem Sofa und seufzte ohne Anlass leise, versonnen, zärtlich: Zug. Dann wieder rannte es, kaum war ein Hupton hörbar, aufgeregt nach draußen, Zug! Zug! Zug! rufend, als nahe hoher Besuch oder doch eine lang erwartete Nachricht aus der Ferne. Nachts jedoch überkam den Gast ein Albtraum. Aus tiefem Schlaf aufschreckend schrie das Mädchen sein Wort in Panik immer wieder heraus. Dann, beim Frühstück, biss sie ins Morgengebäck, darauf mit vollem Mund murmelnd: Tschug … Tschug … Jedes ihrer Gefühle schien mit den Buchstaben ausdrückbar.
Ich dachte, wie es wäre, wenn jeder von uns fürs Leben nur ein Wort zur Verfügung gestellt bekäme und er alles, was zu sagen wäre, damit ausdrücken müsste: die Liebe zu anderen Menschen, den Zorn auf die Staatsregierung, Hunger, die Absicht, einen Nagel in die Wand zu schlagen oder morgen nach Italien zu verreisen – alles müsste nur mit diesem Wort gesagt werden, das einem Menschen vielleicht zugeteilt würde wie sein Taufname.
Zug. Oder Ring, Buch, Fingernagel, Pferdeschwanz, vielleicht auch Verwaltungsreform. Elfmeter? Oder Kuhfladen. Feststelltaste. Schienenfahrzeug.
Im Chinesischen hat ein Wort je nach Aussprache verschiedenste Bedeutungen. Der gleiche Begriff könne, las ich, »Verteidigung der Abschlussarbeit« oder »ein Haufen Scheiße« bedeuten. Welche Nuanciertheit der Betonung, welch ungeheure Musikalität, welche Subtilität von Klang und Gehör würden bei uns einkehren, wenn man mit Zug alles sagen müsste, weil man eben nur diese Buchstabenfolge hätte – und die Art eben, wie man sie ausspricht. Zug, Sssssug, Schug, Tsuhg, ßuck, Zuuhuuk, Zzzzzugggg, zuck-zuckzuck … Man stelle sich eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor, in solcher Weise vorgetragen! Ein Liebesgeflüster nachts im Bett. Einen Fußballbericht. Eine über Jahrzehnte wöchentlich erscheinende Magazinkolumne.