Ein seltsamer Winter, so einen habe ich noch nie erlebt. Fast jeden Tag besuche ich irgendeinen Arzt, lasse von Grund auf meine Gesundheit untersuchen, warum gerade in diesen Zeiten? Warum jetzt diese Bestandsaufnahme?
Kameras durchfahren meinen Darm, Urologenfinger ertasten meine Prostata, Ultraschallwellen durchzittern mein Herz. So was kann zur Sucht werden, man stülpt sich komplett um, am Ende kommt einem ein Tag, an dem man keinen Doktor sieht, öd vor, und auch die Ärzte werden nach einem Blick ins Wartezimmer fragen: Ist heute Hacke nicht da? Plötzlich kann ich morgens nicht mehr sprechen, die Stimme kippt weg nach zwei Worten. Der Halsarzt steckt eine Kamera in meine Kehle (diese Mediziner sind neuerdings wie besessen von Innenaufnahmen), er filmt meine Stimmbänder, während ich ein hohes C zu singen versuche, aber nur »Chüüü…« schaffe, dann verebbt der Ton im Nichts. Gemeinsam sehen wir uns meine Stimmbänder auf dem Bildschirm an, noch nie habe ich meine Stimmbänder gesehen, wie auch? Sie erinnern seltsamerweise an sich öffnende und wieder schließende Fahrstuhltüren, rot entzündete, schleimige, auf- und zufahrende Türen vor einem mein Röcheln transportierenden Lift. Muss man denn da drinnen so aussehen, eine Kehle von Mensch?
Dann schreibt der Halsarzt mir Rezepte. Wir machen gemeinsam den Apotheker an der Ecke glücklich. Daheim hänge ich mir ein Schild um den Hals (»Darf nicht sprechen«) und bitte beim Abendessen schriftlich um Salz. Werde ich Lesungen bald in Gebärdensprache halten?
Nie war ich so froh, abends die Jalousien vor dem Wohnzimmerfenster herunterzulassen, Holzscheite in den Kachelofen zu legen und eine DVD mit den Sopranos einzuschieben. Ein gütiges Schicksal hat mich davor bewahrt, diese Fernsehserie schon gesehen zu haben, nun kann sie mich über die Weltwirtschaftskrise hinwegtragen in gemütlich-heiserem Beisammensein: Tony Soprano, der wegen Depressionen in Therapie befindliche Mafia-Boss, seine machiavellistisch-irre Mutter, der irgendwie ständig überforderte Onkel Junior, die großartige Lorraine Bracco als Psychotherapeutin, alle.
Ich habe sämtliche Staffeln auf einmal gekauft, 78 Stunden, mir ist die Welt egal, und wenn nach ihrem Untergang streunende Hunde durchs leere München streifen, wird mitten in der Stadt hinter einer Tür ein Mann sitzen. Es wird jener Mann sein, den ich einst »ich« nannte und dessen Bart nun durch den Couchtisch gewachsen sein wird wie bei Barbarossa im Kyffhäuser. Er wird die kläffenden Köter mit herrischer Geste zur Ruhe bringen und Sopranos sehen, mag auch ein zielloser Wind vergessene Lottoscheine und wertloses Geld durch die offene Tür hereinwehen.
Als ich ein Kind war, freute ich mich in jedem Winter auf Auerbachs Kinder-Kalender, schmale rote Bücher, Jahr für Jahr neu erscheinend, »begründet von Dr. Aug. Berth. Auerbach im Jahre 1883«. Darin befanden sich Erzählungen mit Titeln wie Die kleine rote Eisenbahn, Reportagen über Rettungshubschrauber auf den Lofoten und Artikel über die größten und kleinsten Dinge der Welt, in denen man erfuhr, dass in Seattle ein Mann lebe, der den kleinsten Flügel der Welt sein eigen nenne, nur fünf Zentimeter breit, und seine Tasten könne man nur mit Hilfe eines Rosshaares spielen.
Kürzlich fand ich in der Post, als Geschenk eines Freundes, einen dieser Kalender-Bände, von 1958. Ich war begeistert, an jene längst vergessenen Bücher erinnert zu werden. Woher wusste der Freund, wie sehr ich sie geliebt hatte? Ich blätterte. Was sah ich auf Seite 2? Einen Stempel. Meinen Stempel. Den Stempel, den ich als Kind geschenkt bekommen hatte, um meine Bücher kennzeichnen zu können, »Axel Hacke, 33 Braunschweig…«
Der Freund hatte das Buch auf einem Berliner Flohmarkt entdeckt. Vierzig Jahre lang war es getrennt von mir. Wo mag es gewesen sein? Wer hat in ihm gelesen? Wo sind die anderen Bände, 1959, 1960…Wo ist meine Kindheit? Warum muss ich niesen, wenn ich das Buch öffne?
Ach ja, Stauballergie.
Illustration: Dirk Schmidt