Was ich bis vor Kurzem nicht wusste, jedenfalls nicht in dieser tief erschütternden Genauigkeit: dass der Mensch von anderen Lebewesen bewohnt wird, ihnen Gehäuse und Heimstatt bietet, ja, dass jeder von uns im Grunde ein besiedelter Planet ist. In der Süddeutschen Zeitung las ich, im menschlichen Darm sowie auf der Haut selbst der bestgewaschenen Personen lebten insgesamt schätzungsweise eine Billiarde Bakterien. Sie wiegen etwa zwei Kilogramm.
1 000 000 000 000 000 Bakterien. Das bedeutet, dass allein das deutsche Volk nur auf seinen Häuten und in seinen Gedärmen 82 000 000 000 000 000 000 000 Bakterien Herberge ist. Auf und in den Deutschen leben 164 000 Tonnen Mikroben. Würde man sie alle auf und in Sattelschleppern mit je 40 Tonnen Ladegewicht transportieren, benötigte man 4100 Lkws von je 14 Metern Länge, das heißt eine fast 60 Kilometer lange Kette von Bakterienladern, in etwa die Entfernung von München nach Augsburg.
Und das sind nur die deutschen Bakterien, von China haben wir noch gar nicht geredet. Es sind auch nur jene Bakterien, die in und auf Menschen wohnen, nicht solche, die ihr Leben in Spüllappen und öffentlichen Toiletten fristen, im Boden, auf Sprossen. Im Übrigen möchte man sich nicht einen Unfall auf der Autobahn vorstellen, bei dem ein Mikrobenlaster seine Ladung verlöre …
Ich spüre, denke ich an meine zwei Kilogramm, ein Kribbeln, fast einen Juckreiz tief im Leib. Es ist im Grunde unerträglich. In der Zeitung stand auch, die Bakterien »tummeln sich« im Menschen. Wer bin ich, dass sich in meinem Leibe Lebewesen »tummeln«? Ein Tummelplatz?
Man sollte das nicht wissen. Man muss es verdrängen. Andererseits ist interessant, dass wir ohne Bakterien nicht leben könnten, sie verdauen unsere Nahrung, arbeiten am Immunsystem, produzieren Vitamine und Weiteres. Im Grunde führt das Bakterium ein Leben, das dem eines Steuerzahlers ähnlich ist. Auch jener ist dem Staat, in dem er sich aufhalten darf, nützlich und darf im Gegenzug Teil des Staates sein. Wie der Laktobazillus Milchsäure herstellt, fabriziert der Steuerzahler Steuergelder.
Indes, was ihn vom Darmlebewesen unterscheidet: Er tut’s nicht gern.
Das Leben des Steuerzahlers besteht aus einer Art Verstoffwechselung von Geld, er nimmt es ein, er gibt es aus, vor allem aber sammelt er Belege, Quittungen, Rechnungen, er setzt und schreibt ab, er berücksichtigt und vermeidet, ein kleines bisschen betrügt er auch und bescheißt. Wie sich die Darmflora auf den Nahrungsbrei stürzt, so arbeitet der Steuerzahler am Geld, mit dem Unterschied, dass keine Enterokokke je einen Bericht über das von ihr Verarbeitete abgegeben hat, der Steuerzahler aber einmal im Jahr eine Steuererklärung absondern muss.
Diese Steuererklärung ist ihm, was der Darmbazille eine Darmspülung oder vielleicht ein Antibiotikum: scheußlich drohendes Ungemach, quälende Tage und Stunden, unter Seufzen vorgenommenes Sortieren und Rechnen, Ausfüllen und Unterschreiben, Datieren und Kontrollieren, Abheften und Eintüten. Nie wird der Steuerzahler die Sehnsucht los, das möge aufhören, ein Ende haben, nie wieder vorkommen – und doch, kaum ist eine Steuererklärung abgeschickt, kaum glaubt man sich frei von ihr, da droht schon die nächste. Wenn der Ausdruck »sein Leben fristen« je irgendwo seine Berechtigung hatte, dann im Dasein des Steuerzahlers. Er lebt von Frist zu Frist.
Seine Hoffnung, es möge noch ein anderes Leben geben, ein müheloseres, lichtvolleres, eines, in dem man einfach ein bisschen weniger Steuerzahler sein könnte und ein bisschen mehr all das, was einer sonst sein möchte in seiner knapp bemessenen Zeit auf Erden, ein bisschen weniger Bazille und etwas mehr Lebewesen, diese Hoffnung heißt »Professor aus Heidelberg« oder »Paul Kirchhof«, es ist die Hoffnung, eine Steuererklärung ließe sich in vielleicht einer Stunde pro Jahr erledigen, auf einem Bierdeckel. Aber diese Hoffnung wird sich nie erfüllen, wetten wir? Der Organismus in, auf und mit dem wir leben, wird es verhindern. Und wissen Sie eigentlich, wie viele Bakterien auf einem einzigen Bierdeckel leben?
Illustration: Dirk Schmidt