Im Rahmen meiner Überlegungen, welchen Rat man Peer Steinbrück geben könnte, damit er die Wahl doch gewinnt, stieß ich im Internet auf Darius Kazemi und Peter Fletcher.
Zunächst zu Kazemi. Der Mann lebt zurzeit dreißig Tage lang ohne Gabel, er hat die Gabel als Feind eines menschenwürdigen Lebens identifiziert und verzichtet also auf sie. Er geißelt in seinem Blog den täglichen Gebrauch der Gabel als »einen Akt der Gewalt gegen unsere Nahrung«. Der Löffel sei sinnvoll, weil man mit ihm Flüssigkeit aufnehme, die anders nicht aufzunehmen sei. Auch das Messer sei kaum zu entbehren, weil man mit ihm Dinge schneide, die sonst nicht zu schneiden wären. »Aber was tut eine Gabel?«, fragt Kazemi. »Sie nimmt Dinge auf. Das ist überflüssig. Halten Sie Ihre Hand vors Gesicht. Spreizen Sie Ihre Finger. Da haben Sie genug Gabel, mehr benötigen Sie nicht.« In Asien lebten viele Menschen ein Leben lang ohne aggressiv ins Essen stechende Gabeln – gut so. »Es ist Zeit, die Gabeln niederzulegen. Es ist Zeit, unsere Menschlichkeit zurückzugewinnen.« So berichtet Darius Kazemi, was ihm im gabellosen Leben widerfährt. Man sieht, wie er im Restaurant mit zwei Bleistiften wie mit Stäbchen im Essen stochert, weil man diesem nur eine Gabel beigegeben hatte. Man erfährt, dass er vom Spaghetti-Essen hungrig aufstand, »ich glaube, ich wechsle zu Tortellini«.
Aber er fühle sich auch befreit. Er schlafe besser.
Was das mit Steinbrück zu tun hat? Gemach. Zunächst noch einige Worte zu Peter Fletcher.
Peter Fletcher zählt seit sechs Jahren alle seine Nieser, etwa 3600 bis heute. Er protokolliert sie auf einem Sneezecount im Internet, mit Ort, Datum und einer Klassifizierung, die von »mild« über »maßvoll« und »maßvoll bis stark« bis zu »stark« und »sehr stark« reicht.
Warum tut Peter Fletcher das?
Er habe, schreibt er, einerseits aus Freude am Zählen begonnen, und wenn man schon etwas zähle, dann etwas Unbeeinflussbares wie das Niesen (nicht, zum Beispiel, wie oft man »Vogel« sage oder so, das könne man willentlich tun). Andererseits sei es Satire gewesen, ein Scherz über die alles mitteilende und doch nichts sagende Welt der »Blogosphäre«, die Inhaltsleere modernen Lebens. Mit der Zeit sei aber mehr daraus geworden: Wer aus seinem Alltag immer wieder etwas herausfiltere wie das Niesen, der intensiviere nicht nur dessen Erleben, sondern empfinde auch die Zeit dazwischen anders, »diese einfache Freude am Vergehen der Zeit, wie neulich, als ich innehielt, um eine Amsel in meinem Garten zu beobachten, fünf oder sechs Minuten lang, wie sie systematisch an einer großen Traube herumhackte, bis ein Stück klein genug war, um es herunterzuschlucken, und wie sie dann wegflog«.
Was mir an diesen Männern gefällt, ist ihre liebenswürdige Exzentrik: der Versuch, ob man nicht der Welt auch mit etwas grotesker Spinnerei ein Stück Wahrheit abgewinnen kann. Wenn es in der deutschen Politik einen gibt, der eine Begabung zu einem solchen Exzentriker hat, dann ist es wohl Peer Steinbrück, wobei zu bedenken ist, dass es in der Welt unserer Politik schon als exzentrisch gilt, spontan auf etwas zu reagieren, frei zu reden oder einfach einer Empfindung Ausdruck zu geben, also, sagen wir, Berlusconi und Grillo – was doch im Grunde sehr schön war – »Clowns« zu nennen. Ohne Rücksicht darauf, dass der Kastratenchor unserer Medien sogleich tagelang das große Fettnapf-Oratorium singt.
Was ist aus diesem Mann geworden, gezähmt von seiner Partei? Und was würde ihm helfen? Radikalität, würde ich sagen, ein Paukenschlag, Peer’s Tränenzähler vielleicht oder Nur-noch-Gummistiefel-tragen-außer-Nachts (als Parodie aller Flutwahlkämpfe, aber auch zur gesteigerten Wahrnehmung von Beinfreiheit, wenn man die Stiefel abends ablegt). Oder der Blog Meine schönsten Scrabble-Wörter und wie sie mir einfielen.
Illustration: Dirk Schmidt